Deutsches Staatsrecht. 95
des Reichs, dem Kaiser und dem Reichstage, übertragen ist. Und letzteres ist durch die Reichs-
verfassung im weitesten Ausmaße geschehen. Die oberste, gesetzgebende Gewalt des Reiches
wird vom Bundesrat nicht allein, sondern in Gemeinschaft mit dem Reichstage ausgeübt. Ferner:
auf weiten Gebieten der Regierungstätigkeit i0 e. S., der Reichsv erwaltung sist der Bundes-
rat völlig ausgeschaltet durch die verfassungsmäßige Zuständigkeit des Kaisers. In der Hand
des Kaisers allein ruht die Vertretung des Reichs nach außen, die Leitung der auswärtigen Politik,
Verfügung und Oberbefehl über die bewaffnete Macht, aber auch die Regierung des Reichs nach
innen, soweit nicht sowohl ein Wollen und Beschließen als ein Handeln namens des Reichs,
Berwaltung im Sinne von Exekutive, in Frage steht. So bewährt sich eine schon in den
Tagen Montesquieus nicht mehr neue politische Weisheit; es bewährt sich die Regel, nicht
alle Gewalten des Staates ungetrennt an einer Stelle zu konzentrieren und die Staatsform nicht
einseitig und ungemischt im Sinne nur eines abstrakten Prinzips (Monarchie, Demokratie,
Aristokratie, Föderalismus, Unitarismus) zu gestalten, auch in der deutschen Reichsverfassung.
Keines der drei obersten Organe ist Alleinherrscher, keines auch dermaßen oberster Herrscher,
daß die beiden anderen ihre Befugnisse von ihm ableiteten: der Kaiser handelt nur in ver-
einzelten Fällen, der Reichstag niemals namens der „verbündeten Regierungen“, d. h. des
Bundesrats, sondern diesem letzteren gleichgeordnet und ebenbürtig, unmittelbar auf Grund der
Verfassung, namens des Reichs. Der Grundcharakter der Reichsverfassung ist, wie angegeben,
föderalistisch, wenn man will, aristokratisch. Aber bedeutsam wie das Prinzip selbst sind dessen
Modifikationen. Den föderalistischen Elementen sind unitarische beigesellt. Unitarisch, d. h.
außer Verbindung und Zusammenhang mit den Faktoren der Einzelstaaten, ist der Organismus
der eigenen und unmittelbaren Reichsverwaltung; eine im strengsten Sinne unitarische
Einrichtung ist ferner und vor allem der Reichstag, in welchem nur die nationale Ein-
heit, nicht die territoriale Gliederung des deutschen Volkes zum Ausdruck gelangt und gelangen
soll. Der Reichstag ist anderseits die Stelle, wo die demokratischen Gedanken des modernen
konstitutionellen Staates im Reiche zu Ausdruck und Einfluß gelangen — Gedanken, die, wie sie
die aristokratische Herrschaft der Fürsten und freien Städte im Bundesrat einschränken, selbst
wiederum im Gleichgewicht gehalten, vielmehr überboten und überstrahlt werden durch das
monarchische Element der Reichsverfassung, durch den Glanz der Kaiserkrone.
§ 20. Der Bundesrat ½.
Die Formation (nicht die Zuständigkeit) dieses obersten der Reichsorgane zeigt eine un-
verkennbare Ahnlichkeit mit jenen Körperschaften, welche schon in früheren Epochen der deutschen
Staatsentwicklung den Einfluß der partikularen Staatsgewalten auf die Angelegenheiten der
nationalen bzw. föderativen Gesamtheit vermittelten: mit dem Reichstage des alten Deutschen
Reiches (in der Gestalt, welche dieser seit dem 17. Jahrhundert angenommen hatte) und dem
Bundestage des Deutschen Bundes. Wie einst zu Regensburg und zu Frankfurt, durch in-
struierte Gesandte vertreten, erscheinen auch im Bundesrate des neuen Reiches die Träger der
Landesstaatsgewalten vollzählig versammelt: eine zusammengeschmolzene Versammlung freilich
im Vergleich mit dem Gewimmel des alten Reichstags und der immer noch reichlichen, allzu
reichlichen Zahl deutscher „Souveränetäten“, welche den Frankfurter Bundestag beschickten! —
„Der Bundesrat besteht,“ so sagt Art. 6 RV., „aus den Vertretern der Mitglieder des
Bundes.“ Als die Mitglieder des Bundes, d. h. des Reiches, zählt sodann Art. 6 die 25 Staaten
auf. Die im Bundesrate vertretenen Reichsmitglieder sind also die Staaten, nicht ihre
Regierungen, die Landesherren und Senate der freien Städte, als solche. Das Reich ist kein
Fürstenbund, sondern ein aus Staaten zusammengesetzter Bundesstaat. Der amtliche Sprach-
gebrauch, welcher als Träger der Reichsgewalt die werbündeten Regierungen“
hinstellt: und, in einem engeren Sinne, als „verbündete Regierungen“ nicht sowohl diesen
Träger als den Repräsentanten desselben, den Bundesrat, bezeichnet, steht mit dieser Erkenntnis
1 Quellen: RW. Art. 6—10. Revidierte Geschäftsordnung für den Bundesrat vom
26. April 1880, abgedruckt bei Triepel, Quellensammlung z. deutsch. Reichsstaatsr. S. 227 ff.
Literatur: Laband 1 233 ff.; Zorn 1 145 ff.; v. Seydel, Komm. zu RV.
Art. 6—10; derselbe, Der deutsche Bundesrat, in v. Holtzendorffs und Bren-
tanos Jahrbuch f. Gesetzgebung usw., N. F. Bd. 3 273 ff.; E. Kliemke, Die staats-
rechtliche Natur und Stellung des Bundesrates (1894); Loening, Grundzüge der RNV. (1901)
S. 58 ff.; v. Jagemann, Reichsverfassung (1904, 80 ff.; Reincke, Der alte Reichstag
und der neue Bundesrat (1906). · · «
«Bismatck,Reichstagsredev.19.Apti11871:,,dieSouveränetät ruht nicht beim Kaiser;
sie ruht bei der Gesamtheit der verbündeten Regierungen". (Horst Kohl,
Polit. Reden des Fürsten B. 5 39 ff.)