100 Berthold Freudenthal.
wenden darf. Während der Probezeit untersteht er der Anstaltsaufsicht, d. i. wohl-
wollender Fürsorge, nicht Polizeiaussicht alten Stiles. Diese Schutzaufsicht wird geübt durch
Pfleger (parole officers), zumeist Beamte gemeinnütziger Gesellschaften, die mit polizeilichen
Befugnissen ausgestattet sind. Nach erfolgreichem Ablaufe der Bewährungsfrist wird der Ge-
fangene endgültig entlassen.
Straffe Zucht, schwere Arbeit, vor allem aber Abhängigkeit der Strafzeit von der eigenen
Gesamtführung machen den Aufenthalt im Reformgefängnisse zu einem von Verbrechem ge-
fürchteten und geben ihm abschreckenden Charakter in höherem Maß, als ihn der
Aufenthalt in Anstalten des alten Systems, insbesondere wegen der von vomherein be-
stimmten Strafdauer, besitzt.
Dafür anderseits, daß nicht Willkür der Gefängnisbehörden über die Länge der Freiheits-
entziehung entscheidet, daß, anders ausgedrückt, nicht Werwaltungs justiz an die Stelle
richterlicher Strafzumessung tritt, wird durch die Zusammensetzung der Entlassungsämter gesorgt.
Die Anstaltsverwaltung, in erster Linie der Direktor, hat in ihnen vielfach nicht Sitz und Stimme,
sonderm ein bloßes Vorschlagsrecht, während das richterliche Element in ihnen, und zwar in
wachsendem Maße, Vertretung findet. Solche Entlassungsämter ähneln etwa unseren Schöffen-
gerichten.
Vielfach haben die drei Eigentümlichkeiten des Reformsystems auch in Anstalten alten
Systemes, die sogenannten State Prisons, Penitentiaries usw., Eingang gefunden, nicht überall
freilich in organischer Weise.
Die öffentliche Meinung und vor allem die Sachkundigen in Amerika sehen das neue
Gefängnissystem als erfolgreich und bereits bewährt an, wiewohl wirklich umfassende Staats-
oder gar Unionsstatistiken hierüber (wie auch sonst vielfach) nicht vorhanden sind.
Immerhin ist es ein deutliches Zeichen des Vordringens unseres Systems, daß es 1911
in 17 der angesehensten nordamerikanischen Einzelstaaten eingeführt war, daß kein Staat es
je wieder aufgegeben hat, und daß drei Staaten mehr als ein Reformgefängnis geschaffen haben.
IIa. Das Resormsystem Amerikas hat seinen Weg, wie nach dem benachbarten Kanada,
so auch nach England gefunden. Hier ist es im Borstal System erfolgreich nach-
gebildet worden.
Zunächst geschah dies lediglich im Wege der Verwaltung: Im Rahmen des ordent-
lichen Strafvollzuges wurde zuerst in Bedford, dann in Borstal bei Rochester (Kent) für
Jugendliche zwischen 16 und 21 Jahren ein progressives System dreifacher, nämlich schul
mäßiger, gewerblicher und körperlicher Ausbildung in drei Graden
eingeführt.
Aus dieser rein gefängnistechnischen Neuerung ist die Detention in einer Borstal-Anstalt
durch die Prevention of Crime Act von 1908 zu einer ordentlichen Freiheitsstrafe ge-
worden, als ein neues, gesetzlich anerkanntes Sonderstrafmittel für Jugendliche, die vom Gericht,
an Stelle der ordentlichen Strafe, auf eine bestimmte Zeit, aber auf wenigstens ein Jahr und
höchstens drei Jahre, einer Borstal-Anstalt zugewiesen werden können. Es ist neuerdings ein-
gehend dargelegt worden 1, daß bei ihr, obwohl die in erster Linie vom Besserungszweck be-
dingte Dauer der Überweisung zur Schwere der Schuld in keinem Verhältnisse zu stehen brauche,
voller Strascharakter gewahrt sei. „Die erziehlichen Zwecke der Borstal-Haft stehen
nicht im Widerspruch zu ihrem Strascharakter“ (Kriegsmann). Gleiches gilt von der
amerikanischen Überweisung in ein Reformatory.
Zur Anstaltsbehandlung tritt musterhaft organisierte Fürsorge für die entlassenen
Jugendlichen des Borstal Systems durch Borstal Committees, die in der Borstal Association
zusammengefaßt sind.
b) Dem ordentlichen Strafvollzug Englands, der bekanntlich erst 1867 verstaatlicht wurde,
ist im übrigen eine Verbindung von Progressiv= und Klassifizierungssystem eigen. Dabei ist
die Einzelhaft stetig gekürzt worden. Der Klassifikation liegt das beachtenswerte Bestreben
zugrunde, durch Bildung zahlreicher Gruppen von Gefangenen möghlichst zu individualisieren:
: Kriegsmann in d. Mitt. d. Krim. Ver., Bd. 18 S. 506 ff.
* Näheres hierzu und zum Folgenden bei Goldschmidt (s. oben S. 77) S. 106 ff.