Strafrecht. 9
Aber wenn das Reichsgericht, sei es auch in konstanter Praxis, eine Ansicht vertritt, welche dem
niederen Gericht keinen Boden im Gesetz zu haben scheint, so darf dasselbe der reichsgerichtlichen
Ansicht doch nicht folgen, sollte auch die Aufhebung seines Urteils in der Rechtsmittelinstanz
gewiß sein. Denn es würde sonst einen Gerichtsgebrauch anstatt des den Richter allein bindenden
geschriebenen Gesetzes respektieren.
Für den Richter ist nur das Gesetz Norm und Richtschnur. Darum bieten die Materialien
des Gesetzes wohl brauchbare Auslegungsmittel, aber keinen Ersatz für ein dunkles oder fehlendes.
Gesetz; denn sie stellen im besten Fall den bloßen Willen des Gesetzgebers dar, während zum
Gesetz noch die Erklärung dieses Willens gehört.
Verschieden von dem Fehlen jeder Erklärung ist der Mangel der Offensichtlichkeit der-
selben. Darum steht nichts im Wege, latente Rechtssätze ans Licht zu ziehen. Ein besonderes
Mittel hierfür ist die Analogie. Sie kann bei einem Gesetzbuche, das auf Vollständigkeit Anspruch
macht, nicht entbehrt werden und muß auch im Gebiet des Strafrechts Geltung haben. Selbst-
verständlich aber ist es schon nach dem Satze nullum crimen. nulla poena sine lege ausgeschlossen,
eine Strafe wegen eines Tatbestandes zu verhängen, der nicht unter das Gesetz fällt, sondern
nur einem der unter dasselbe fallenden ähnlich und vielleicht moralisch oder nach des Gesetz-
gebers Ansicht nicht minder strafwürdig ist.
§ 3. Das Herrschaftsgebiet der Strafgesetze.
Die Gesetze sind dazu da, bestimmte Lebenserscheinungen zu umfassen und solche zu be-
herrschen. Ihre Herrschaft ist möglich im Raum und in der Zeit, in bezug auf Personen und auf
Rechtsverhältnisse.
I. Sachliches Herrschaftsgebiet. Bei der Erörterung des sachlichen Herr-
schaftsgebietes ist nicht die Frage zu untersuchen, welche Handlungen überhaupt mit Strafen
belegt werden können; denn es gibt keine, bei denen dies begrifflich unmöglich wäre. Hier ist
vielmehr zu untersuchen, welche Handlungen durch die Reichsgesetzgebung und welche durch die
Landesgesetzgebung verboten werden können.
Nach Art. 4 der Reichsverfassung liegt die gemeinsame Strafgesetzgebung beim Reich.
Daher ist letzteres bei Vorliegen eines gemeinsamen Bedürfnisses in der Lage, nicht nur für
das Reich, sondern auch für einzelne Territorien Gesetze zu geben.
Die Einzelstaaten sind zum Erlaß von Strafgesetzen lediglich auf dem ihnen vom Reich
überlassenen Gebiete befugt. Nach § 2 ERSt GB. haben sie diese Befugnis für Materien, welche
nicht Gegenstände des Reichsstrafgesetzbuches sind. Da strafrechtliche Materie = Gegenstand
eine einzelne, mit Strafbestimmungen umkleidete Lebenserscheinung, wie z. B. die Tötung,
die Wegnahme einer fremden Sache, bedeutet, hat man unter Materien des Reichsstrafgesetz-
buches diejenigen Lebenserscheinungen zu verstehen, für welche dasselbe die erforderlichen Vor-
schriften gegeben hat. Danach wird die Landesgesetzgebung nicht schon dann ausgeschlossen,
wenn jenes über eine Materie überhaupt Bestimmungen enthält, wohl aber, wenn es dieselbe
legislatorisch konsumiert.
Ob dies der Fall ist, kann nur durch sorgfältige Interpretation des Reichsstrafgesetzbuches
selbst festgestellt werden. Die Uberschriften zu den einzelnen Abschnitten bieten wohl eine Hand-
habe, entscheiden aber nicht. Es muß auch die Entstehungsgeschichte und der Zusammenhang
der Gesetze mit zu Rate gezogen werden. Als geregelte Materien gelten z. B. die Sachbeschädi-
gung (26. Abschnitt RStGB.) und der Meineid (9. Abschnitt RSt G.). Die Landesgesetzgebung
kann daher die fahrlässige Sachbeschädigung, die nach Reichsrecht straflos ist, nicht unter Strafe.
stellen und muß aus gleichem Grund den einer Privatperson geleisteten Meineid straflos lassen.
Dagegen bilden die Ubertretungen des 29. Abschnitt- des Reichsstrafgesetzbuchs keine von diesem
geregelte Materie, so daß hier ein weites Feld für die Landesgesetzgebung geblieben ist.
Zweifelhaft ist es, ob die allgemeinen Lehren des Reichsstrafgesetzbuchs auch so weit ge-
regelte Materien enthalten, daß sie die Landesgesetzgebung für die nach Landesrecht strafbaren
Handlungen ausschließen. Für manche Grundsätze muß dies entschieden bejaht werden. So
kann das zurechnungsfähige Alter nur allgemein bestimmt und sein Eintritt nicht deshalb früher
angenommen werden, weil das Delikt durch die Landesgesetzgebung normiert ist. Bei Versuch