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dort dem Gefangenen, so kann er hier den Eltern und Vormündern an Beschränkung ihrer
Rechte so viel, aber auch nur so viel auferlegen, wie kraft Rechtens der Richter in der
Fürsorgeerziehung verhängt hat. Jeder Rechtseingriff muß hier wie dort unmittelbar oder
mittelbar auf Gesetz beruhen.
III. 8§ 8. Geschichtliches.
Das deutsche Recht der Fürsorgeerziehung geht auf den Code Pénal zurück. Dessen
Artikel 66 sieht vor, daß Jugendliche unter 16 Jahren, die mangels des Unterscheidungsvermögens
(discernement) freigesprochen sind, je nach den Umständen entweder an ihre Eltem zurück-
geschickt oder in eine Besserungsanstalt (maison de correction) untergebracht werden sollen,
um dort „während einer solchen Anzahl von Jahren, wie das Urteil bestimmen wird“, aber
nicht über das 20. Lebensjahr hinaus, erzogen und festgehalten zu werden.
Dies änderte die Preußische Kabinettsorder vom 22. Juni 1839 (Gesetzsammlung f. d.
Pr. Staaten S. 222) dahin ab, daß das Strafgericht nur zu entscheiden habe, ob der Minderjährige
in eine Besserungsanstalt zu bringen sei, daß die Dauer der Festhaltung dagegen „je nach der
Erziehungsbedürftigkeit, nach den unzweideutigen Beweisen der Besserung, nach der beendeten
Ausbildung zu einem ehrlichen Gewerbe und der Gelegenheit zu ehrlichem Unterkommen“
durch Ermessen der der Anstalt vorgesetzten Verwaltungsbehörde bestimmt werden solle.
Diese Regelung übemahm § 42 des preußischen Strafgesetzbuches von 1851 und § 56 des
Reichsstrafgesetzbuches. Hier ist bestimmt, daß, bei einem Angeschuldigten zwischen
12 und 18 Jahren, der bei Begehung der strafbaren Handlung die zur Erkenntnis ihrer Straf-
barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß und deshalb freizusprechen ist, im Urteil, also vom Strafs-
richter, zu bestimmen sei, ob er seiner Familie überwiesen oder in eine Erziehungs- oder Besse-
rungsanstalt gebracht werden solle. „In der Anstalt ist er so lange zu behalten, als die der Anstalt
vorgesetzte Verwaltungsbehörde solches für erforderlich erachtet, jedoch nicht über das vollendete
20. Lebensjahr.“
Wer das 12. Lebensjahr bei Begehung der Straftat noch nicht vollendet hat, wird von
§55 RSt GB. für strafgerichtlich unverfolgbar erklärt. Gegen ihn aber können, seit der Novelle
zum StGB. vom 26. Febr. 1876, „nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vorschriften“
die zur Besserung und Beaussichtigung geeigneten Maßregeln getroffen werden. Doch setzt
die Unterbringung in eine Familie, Erziehungs- oder Besserungsanstalt voraus, daß durch vor-
mundschaftsrichterlichen Beschluß die Begehung festgestellt und die Unterbringung für zulässig
erklärt ist.
War also in § 56 für die Zwölf= bis Achtzehnjährigen die Zwangserziehung reichsrechtlich
angeordnet, so stsie in § 55 für die bis zu 12 Jahre Alten nur reichsrechtlich zugelassen.
Ihre landesgesetzliche Anordnung für Preußen brachte das Gesetz vom 13. März 1878, betreffend
die Unterbringung verwahrloster Kinder, unter der Voraussetzung, daß die Unterbringung „zur
Verhütung weiterer sittlicher Verwahrlosung erforderlich sei#. Zwangserziehung ohne vor-
gängige strafbare Handlung blieb durchaus den Landesgesetzen überlassen.
§ 9. (Forts.) Die Fürsorgeerziehung seit Erlaß des deutschen bürgerlichen
Gesetzbuches ?.
a) Fälle. An den soeben wiedergegebenen Bestimmungen des Strafgesetzbuches
(§F 55, 50) hat das BG. nichts Wesentliches geändert. Zu jener „älteren strafrechtlichen Schicht“
(von Liszt) hat es aber cine bürgerlichrechtliche oder eine sozialpolitische hinzugefügt. Ihr
ist eigen, daß die Fürsorgeerziehung"“, wie das preußische Gesetz vom 2. Juli 1900
die Zwangserziehung im Interesse der Zöglinge nennt, insoweit von der vorgängigen Begehung
einer objektiv strafbaren Handlung unabhängig ist.
S m * die ältere Zeit s. Krohne, Vorwort zu: Erziehungsanstalten für die Jugend, 1901
*2 Siehe hierzu Goeze, Die F.-E. in Preußen, 1910.