Gefängnisrecht und Recht der Fürsorgeerziehung. 111
Hiernach kommen unter geltendem Reichsrechte zu den strafrechtlichen Fällen der 88 55,
56 St GB. drei Fälle hinzu. Es handelt sich dabei, mit einer von Kriegsmann (S. 262 f.)
berichteten treffenden Terminologie, im ersten um „gute Kinder schlechter Eltem“, in den
beiden andern um sschlechte Kinder guter Eltem“.
1. Durch Verschulden der Eltern wird das geistige oder leibliche Wohl des Kindes
gefährdet (S 1666 BGB.). Hier hat das Vormundschaftsgericht die zur Abwendung der Gefahr
erforderlichen Maßregeln zu treffen und kann insbesondere die Unterbringung des Kindes zur
Exziehung in einer Familie oder einer Erziehungs= oder Besserungsanstalt anordnen.
2. Auch ohne jedes Verschulden, insbesondere etwa des Vormundes, kann bei einem
unter Vormundschaft stehenden Kinde das Vormundschaftsgericht diese Unterbringung zur
Exziehung anordnen (§ 1838 BGB.).
In beiden Fällen (zu 1 und 2) machen die Ausführungsgesetze von Preußen, Baden u. a.
die drohende, Sachsen, Hamburg u. a. die schon vorliegende Verwahrlosung zur weiteren Voraus-
setzung der Fürsorgeerziehung.
3. Die landesgesetzlich bestehenden Vorschriften über Zwangserziehung läßt
das BGB. unberührt, — ein Verdienst v. Liszts, der Internationalen
Kriminalistischen Vereinigung und der von ihnen geführten Bewegung. Nur muß
die Zwangserziehung vom Vormundschaftsgericht angeordnet und zur Verhütung des „völligen
sittlichen Verderbens“" notwendig sein (Art. 135 EG. BGB.). Das preußische Fürsorgeerziehungs-
gesetz vom 2. Juli 1900 fügt als Grund des Bedürfnisses die „Unzulänglichkeit der erziehlichen
Einwirkung der Eltem oder sonstigen Erzieher oder der Schule“ an.
b) Beschlußfassung. Den Beschluß auf Unterbringung in Fürsorgeerziehung
erläßt, abgesehen von dem Fall des § 56 St GB., im allgemeinen überall die Vormundschafts-
behörde. Vorher finden eingehende und vielseitige Ermittlungen statt. Bei Gefahr im Verzug
ist vorläufige Unterbringung zugelassen, eine praktisch überaus bedeutsame Maßnahme.
c) Die Ausführung der Fürsorgeerziehung liegt in den Einzelstaaten völlig ver-
schiedenen Behörden ob. So in Preußen den Kommunalvberbänden, die auch entscheiden,
ob Familien= oder Anstaltserziehung eintritt. Für die Unterbringung wird dabei das Be-
kenntnis des Zöglings berücksichtigt. Kommt er in eine Familie, so wird ihm ein Fürsorger
bestellt. In Bayern ist die Distriktsverwaltungsbehörde, in Württemberg der Aus-
schuß der Landarmenverbände, in Baden das Bezirksamt, in Hessen das Kreisamt zu-
ständig.
d) Die Unterbringung erfolgt in Familien oder, wo dies, wie etwa bei
minderjährigen Großstadtdirnen, unangebracht ist, in Anstalten ?2. Diese sind teils kasernen-
artig, teils nach Familien in kleinen Häuschen (rcottage system) organisiert und bald geschlossen
(„teste Anstalten“), bald offen (open door system'). Die Art der Ausbildung bestimmt sich
danach, ob die Zöglinge schulpflichtig oder schulentlassen sind.
e) Die Fürsorgeerziehung en det im Falle des § 56 St GB. mit dem 20. Lebensjahre,
sonst aber in den Einzelstaaten ganz verschieden: so in Preußen mit der Minderzährigkeit,
wenn nicht schon vorher durch Beschluß des Kommunalverbandes (eventuell widerruflich) Auf-
hebung erfolgt, in Württemberg mit dem 18. Jahr, wenn nicht schon vorher die Auf-
hebung durch Beschluß des Vormundschaftsgerichtes endgültig oder durch Beschluß des Aus-
schusses auf Widerruf erfolgt, in Baden mit dem 20. Jahr usw.
H Die Kosten der Erziehung und des Unterhaltes trägt in Preußen der Kommunal=
verband, doch leistet die Staatskasse einen Kostenzuschuß von zwei Dritteln; in Bayern die
Staatskasse zu drei Fünfteln und bei Nichtbayerm fünf Fünfteln; in Württemberg der
Landarmenverband, dem die Staatskasse die Hälfte ersetzt; in Baden der Armenverband
ein Drittel, die Staatskasse zwei Drittel; in Hessen im Unvermögensfalle teils die Armen-
behörde, teils die Staatskasse.
Siehe v. Liszt, Strafr. Aufs. Bd. 1 S. 537 ff.
„ Sehr gut Petersen in Aschaff. M. f. Kr. P. 10, 257 ff.