Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

122 Ernst Beling. 
dem Richter nur die formelle Leitung des Prozesses zuweisend. Da aber die — ungelehrten — 
Schöffen angesichts der veränderten Zeitverhältnisse der Aufgabe, Recht zu sprechen, nicht ge- 
wachsen waren, da sie insonderheit dem rezipierten römischen Recht hilflos gegenüberstanden, 
so konnte es nicht ausbleiben, daß ihre Tätigkeit zum wesenlosen Scheine herabsank. In allen 
irgendwie komplizierteren Fällen kam es nämlich zur sog. Akenversendung an einen Oberhof 
oder eine Juristenfakultät usw., und das von da eingeholte Gutachten wurde dann nach Rück- 
kunft der Akten unverändert als Urteil publiziert, — ein Verfahren, das bereits die Carolina 
selbst den Gerichten zur Pflicht gemacht hatte. Es leuchtet ein, daß der Prozeß damit im 
wesentlichen schriftlich und heimlich geworden war; und geringe Reste der Mündlichkeit und 
Offentlichkeit, die nach der CCC. noch bestanden, wurden von der weiteren Rechtsentwicklung 
beiseite geschoben. Das Anklagen im peinlichen Verfahren war bereits nach der CCC. eine 
nicht eben angenehme Tätigkeit (Kautionspflicht, eventuell Personalhaft usw.); und da der 
Richter die Ubeltäter auch „von Amts wegen annehmen"“ konnte, so erklärt es sich, daß im Laufe 
der Zeit in praxi lediglich der Inquisitionsprozeß zur Anwendung kam. Die Inquisition war 
zunächst, im Anfang jedes Verfahrens, darauf gerichtet, ob überhaupt eine strafbare Handlung 
vorliege, und wer der Täter sei, inquisitio generalis; dann folgte die inquisitio specialis, gerichtet 
auf Aburteilung eines bestimmten Täters. Das Beweisrecht bildete sich im Laufe der Zeit 
streng formal heraus (probatio plena, semiplena usw.); andererseits trat auch nach und nach 
eine gewisse Verwilderung ein, insofern die Verhängung einer Verdachtsstrafe zugelassen wurde 
in Fällen, in denen kein voller Beweis geführt war. Von der Folter („peinliche Frage“) 
wurde ein ausgedehnter Gebrauch gemacht; zu ihr kam es, wenn entweder ein halber direkter 
Beweis oder genugsame Indizien vorlagen. Erst den Angriffen von Thomasius (De tor- 
tura e foris Christianorum proscribenda, Halae 1705), Montesquien, Beccaria 
usw. wich die Folter allmählich (zuerst in Preußen: 1740 Friedrich der Große). 
V. überhaupt wurde durch die sog. Aufklärungsperiode, mehr noch durch die französische 
Revolution, dem gemeinen Strafprozeß in zahlreichen Punkten hart zugesetzt mit dem Erfolge, 
doß sich am Ende einer freilich jahrzehntelangen Entwicklung zahlreiche Landesgesetze von ihm 
lossagten und an seine Stelle den sog. „reformierten Strafprozeß“ setzten (seit 1848). 
Dieser reformierte Strafprozeß schloß sich in weitgehendem Umfange an das französische Recht 
und an das diesem zugrunde liegende englische Recht an; vorbildlich war besonders der Code 
Tinstruction criminelle von 1808. Das Bindeglied zwischen Frankreich und Deutschland waren 
dabei die Rheinlande, die in napoleonischer Zeit die Bekanntschaft mit dem französischen Recht 
gemacht hatten und dieses auch nach ihrer Wiedervereinigung mit Deutschland nicht aufgeben 
mochten. Die Reform bezog sich zuvörderst auf die Gerichtsverfassung. Man hatte, wie man 
meinte, mit der Rechtsprechung durch Beamte üble Erfahrungen gemacht; besonders in politi- 
schen Prozessen schien bei ihr jede Garantie für objektive, gerechte Beurteilung zu fehlen. Man 
forderte daher Unabhängigkeit der Gerichte und von diesem Grundgedanken aus Heranziehung 
des Laienelements. Es kam zur Einführung der Geschworenengerichte (der Assisen, der Jury). 
In der Erkenntnis, daß die Entscheidung der Rechtsfrage bei Laien unmöglich gut aufgehoben 
sein kann, wagte man freilich anfänglich nur, die Beantwortung der Tatfrage in die Hände der 
Geschworenen zu legen; als sich aber aus der Spaltung der Rechts- und der Tatfrage unlösliche 
Komplikationen ergaben, überließ man den Geschworenen auch die Rechtsfrage. Die reine Laien- 
justiz, wie sie in der schwurgerichtlichen Verfassung zur Geltung kommt, behielt indessen nicht die 
Alleinherrschaft; neben ihr trat die schöffengerichtliche Rechtsprechung auf den Plan, bei der Berufs- 
und Laienrichter zusammen als einheitliches Kollegium entscheiden. Ein zweites durch die Reform- 
gesetzgebung verwirklichtes Postulat war die Beseitigung des Inquisitionsprozesses; an seine Stelle 
trat der Anklageprozeß, indem für die Klägerrolle eine Staatsanwaltschaft ins Leben gerufen 
wurde. Endlich wurde der schriftliche, mittelbare, geheime Prozeß durch den mündlichen, un- 
mittelbaren, öffentlichen ersetzt und die formale Beweistheorie von dem Prinzip der freien 
Beweiswürdigung abgelöst. 
Unter den Partikularstrafgesetzen des 18. und des 19. Jahrhunderts sind folgende her- 
vorzuheben: 
a) Noch von den gemeinrechtlichen Prinzipien beherrscht: Coder Maximilianeus juris 
Bavarici criminalis (1751); Constitutio criminalis Theresiana (1768); Kaiser Josephs II. Vor-
	        
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