Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Elfter Jahrgang. 1895. (36)

Das Deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 1.) 99 
preußische nicht ausgenommen, und mein alter Herr hat lange gezögert, ehe 
er seine Unabhängigkeit bereitwillig aufgab an das Reich. Also seien wir 
Denen dankbar, die für das Reich Opfer gebracht haben, die den Dynastien 
schwer fallen mußten nach der ganzen deutschen tausendjährigen Geschichte. 
Seien wir denn auch der Wissenschaft und ihren Pflegern dankbar, daß 
sie auf ihrem Herd das Feuer der Einheit erhalten haben, bis die Zeit 
kam, da ihm wieder Brandstoff zugeführt wurde und es höher aufflammte 
und uns eine befriedigende Leuchte und Wärme gewährte. Also ich möchte 
vor allen Dingen — Sie werden mir sagen, ich bin ein alter Konservativer — 
mich dahin zusammenfassen: Halten wir, was wir haben. Vor allen Dingen, 
ehe wir neues versuchen, fürchten wir uns auch nicht vor denjenigen, die 
uns das nicht gönnen, was wir haben. Es sind Kämpfe in Deutschland 
ja immer gewesen und die heutigen Fraktionsspaltungen sind ja doch nur 
die Nachwehen der alten deutschen Kämpfe in den Städten zwischen den 
Geschlechtern und Zünften, in den Bauernkriegen zwischen den Befigenden 
und den Nichtbesitzenden, in den Religionskriegen, im dreißigjährigen Kriege. 
Alle diese tiefgehenden, ich möchte sagen geologischen Spaltungen im deut- 
schen Boden lassen sich nicht mit einem Schlage vertilgen und wir müssen 
mit unserem Gegner doch auch Nachsicht haben und auch nicht darauf ver- 
zichten, unsererseits zu fechten. Das Leben ist Kampf in der ganzen Schöpfung 
und ohne innere Kämpfe kommen wir zuletzt beim Chinesentum an und 
versteinern. Ohne Kampf kein Leben, nur muß man in allen Kämpfen, 
sobald die nationale Frage auftaucht, doch immer einen Sammelpunkt 
haben, und das ist für uns das Reich. Nicht wie es vielleicht gewünscht 
werden könnte, sondern wie es besteht, das Reich und sein Kaiser, der sein 
Vertreter ist, und deshalb bitte ich sie, mit mir einzustimmen in das Wohl 
auf Kaiser und Reich, und mögen Sie anno 1950, so viel von Ihnen dann 
noch leben, mit voller Zufriedenheit den Toast dann abermals ausbringen: 
Kaiser und Reich hoch, hoch, hoch! 
Beim Fackelzug sagt der Fürst u. a.: 
„Wenn alle Hamburger und Bremer, die in Südamerika leben, 
heimkehren wollten, so würde ich das für viel verhängnisvoller halten, als 
wenn alle amtlichen Vertreter des Deutschen Reiches in jenem Weltteil ver- 
schwänden. Ich halte den Hamburger Kaufmann für einen ungleich ge- 
schickteren Vermittler, ich habe für unsere Kolonialpolitik gehofft, daß sich 
draußen dort eine kaufmännische Regierung ausbilden würde — nun, ich 
will nicht auf den Irrweg der Kritik, dessen was geschieht oder geschehen 
sollte, kommen — aber ich hoffe sicher, daß wir auch in Afrika noch ein- 
mal zu dem System kommen werden, das England in Ostindien so groß 
gemacht hat, daß der Kaufmann dort regiert, der besser weiß, was dazu 
gehört, als das am Aktenschrank und Aktentisch möglich ist. Und in diesem 
Sinne und in der Hoffnung, die ich hier ausgesprochen, bitte ich Sie auf 
Ihre von mir hochgeschätzte und geliebte Vaterstadt ein Hoch auszubringen. 
Ich habe leider seit Jahr und Tag von Ihnen fernbleiben müssen wegen 
der körperlichen Hinfälligkeit, die mich in Kissingen befiel als ein schwerer 
Schlag und dazu kommt die Vereinsamung meines Hauses, die mich fern- 
hielt. Ich bitte Sie also: die freie und Hansestadt Hamburg sie lebe hoch!" 
1. April. Preßstimmen zu Bismarcks Geburtstag. 
Die konservativen und mittelparteilichen Blätter bringen durchweg 
Festartikel, in denen sie Bismarck als den größten Staatsmann des Jahr- 
derts feiern, die Urteile der freisinnigen und klerikalen Presse lauten 
den, die der sozialistischen absprechend, manche Zeitungen wie die 
Zeitung" nehmen gar keine Notiz von dem Feste. 
  
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