170 Ernst Beling.
Eine Sonderbestimmung ist für gewisse prozessualerhebliche Tatsachen in dem Sinne ge-
troffen, daß für ihre Feststellung sog. „Glaubhaftmachung“, das ist bloße Wahrscheinlichmachung,
genügt, vgl. z. B. 85 26 (Richterablehnung), 45 (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand), 55
(Zeugnisweigerung) St PO.
Zu 1 3. Wieder anders verhält es sich mit der Aufsuchung der Erfahrungssätze.
Sie mit den Tatsachen zusammen als den Gegenstand des „Beweises“ zu bezeichnen, ist schief
(einerlei ob dabei der Beweis im Sinne des strengen Beweisrechts oder im weiteren Sinne
als richterliche Feststellung überhaupt verstanden wird). Das erhellt theoretisch genommen
daraus, daß sie der Verwendung im Prozeß nur durchgangsweise bedürfen: sie dienen nur dazu,
daß jemand mittels ihrer von einer gegebenen Tatsache aus zu einer anderen problematischen
gelangt (Syllogismus). Praktisch genommen bedeutet dies:
a) Auch wo ein Erfahrungssatz „relevant“ ist, d. h. ohne ihn eine bislang problematische
relevante Tatsache nicht feststellbar ist, ist der Richter keineswegs genötigt, den Erfahrungssatz
als solchen festzustellen oder auch nur zu verlautbaren oder verlautbaren zu lassen; er kann viel-
mehr seine Handhabung vollständig dem unverlautbaren Denken eines Sachverständigen über-
lassen derart, daß er nur das Ergebnis der Schlußfolgerung: die erfolgerte Tatsache, aus der Hand
des Sachverständigen entgegennimmt. Unausweichlich ist dies sogar dann, wenn der Richter
den Erfahrungssatz überhaupt nicht verstehen kann (man denke an Formeln und termini technici
der Chemie usw.), weil dazu besondere Vorkenntnisse gehören, oder er ihn zwar verstehen
kann, aber seine Nutzanwendung eine dem Richter fehlende Schulung technischer usw. Art
bedingt.
b) Aber auch wo der Richter den Erfahrungssatz als ein Glied in seinem eigenen, auf eine
Tatsachenfeststellung hinauslaufenden Gedankengang verwertet, trägt die Gewinnung des Er-
fahrungssatzes ein durchaus eigenartiges, von der Tatsachenfeststellung verschiedenes Gepräge.
a) Entweder der Richter hat selbst die Erfahrung, der der Erfahrungssatz entspringt, im
Laufe seines Lebens gewonnen; dann erfolgt die Aussuchung des Erfahrungssatzes durch ein-
faches Sichbesinnen, durch Anrufung des Erinnerungsvermögens, also in total anderer Weise
als beim „Beweis“.
69) Oder der Richter stellt zuvörderst Lebenskonkreta, die mit dem gegenwärtigen Prozeß
nichts zu schaffen haben, derart fest, daß er aus den dabei beobachteten Einzeltatsachen auf eine
Erfahrungsregel zu schließen in der Lage ist, wobei die Gewinnung des Erfahrungssatzes einem
ganz frei gestalteten Tatsachenfeststellungsverfahren entspringt und nachfolgt.
) Oder der Richter veranlaßt einen zur Kundgebung einer zu erfolgernden Tatsache be-
rufenen Sachverständigen, bei der Erstattung des Gutachtens seinen Syllogismus voll auszu-
breiten, und entnimmt dem Syllogismus außer dem Schlußergebnis (der problematischen Tat-
sache) auch die Prämisse: den Erfahrungssatz, um die Schlußfolgerung selber mitzumachen (dem
Gutachten parallel oder ihm entgegengesetzt). Alsdann hebt der Richter aus einem Tatsachen-
feststellungsvorgang zugleich eins seiner Elemente zu eigener Anwendung heraus.
5) Oder endlich der Richter läßt sich durch einen Sachkundigen weiter nichts als den ab-
strakten Erfahrungssatz mitteilen.
Daß die Prozedur zu 25 unbrauchbar sei (so die frühere Auflage und mein Lehrbuch), läßt
sich nicht aufrecht erhalten; es ist zuzugeben, daß der Richter, statt von dem Sachverständigen
ein voll ausgebreitetes Gutachten (J) oder die Mitteilung nur des Gutachtensergebnisses (oben a)
zu fordern, auch einmal veranlaßt sein kann, sich mit der bloßen Ubermittlung der Prämisse
für ein Gutachten zu begnügen, und es werden dabei auch die Sätze über den Sachverständigen-
beweis entsprechende Anwendung zu finden haben, so daß ein Ausschnitt aus dem Beweisrecht
der Entleihung von bloßen Erfahrungen (also der Gewinnung einer Adoptiverfahrung) nutzbar
gemacht werden kann.
Gleichwohl leuchtet bei Zusammennahme des unter a und b Gesagten ein, daß man den
Erfahrungssätzen Gewalt antun würde, wollte man sie einfach als themata probanda dem
Beweisrecht mitunterstellen: Vergewisserung über eine in der Gedankenwelt bestehende These
muß notwendig verschieden sein von der auf Ermittlung von Lebenskonkreta gerichteten Fest-
stellungsprozedur.