192 Ernst Beling.
„Ja“ oder „Nein“ möglich ist. Deshalb sind echte Alternativfragen, das sind solche, bei denen
ein „oder“ im Sinne von aut unterläuft, unmöglich und nur insoweit eine Frage mit „oder“
zulässig, als dieses „oder"“ die Bedeutung von sive hat (so „in oder gleich nach der Geburt“ (5 217
St GB.) zulässig). Mehrere Taten des Angeklagten dürfen ebensowenig wie die Taten mehrerer
Angeklagten in eine Frage zusammengefaßt werden: kollektive Fragestellung ist unzulässig.
Die Formulierung der Fragen muß sich durchweg genau an die Worte des materiellen Straf-
rechts anschließen.
Niemals fehlen darf die Hauptfragesz sie fragt, ob der Angeklagte schuldig sei im Sinne
des Eröffnungsbeschlusses. Die juristische Formulierung muß mit den Worten des betreffenden
Strafgesetzes im eigentlichen Sinne unter Hinzufügung der „Erscheinungsform“ der
Tat (Versuch, Anstiftung usw.) geschehen. Die Tat ist dabei derart zu individualisieren, daß
sie von anderen unterschieden ist. Daneben muß aber auch eine Spezialisierung für
zulässig erachtet werden, wiewohl dies bestritten ist, d. h. eine Hinzufügung der faktischen Um-
stände, in denen die Rechtsbegriffe gefunden werden sollen. Die Hauptfrage lautet also z. B.:
„Ist der Angeklagte schuldig, am 13. Januar 1902 in Berlin einen Menschen, nämlich
den Fabrikwächter Phylax aus Berlin, getötet und die Tötung mit überlegung ausgeführt
zu haben?“
Ergibt sich die Möglichkeit einer vom Eröffnungsbeschlusse abweichenden rechtlichen Auf-
fassung der Tat, so wird eine Hilfsfrage gestellt für den Fall der Verneinung der Haupt-
frage. Ihr Bau ist der gleiche wie der der Hauptfrage („Ist der Angeklagte schuldig —?7).
Möglicherweise können zu der Hauptfrage oder zu der Hilfsfrage für den Fall ihrer Bejahung
Nebenfragen hinzutreten; das sind Fragen, mittelst deren einzelne Umstände der Tat
zur Beantwortung verstellt werden (nämlich: mildernde Umstände; die zur Erkenntnis der
Strafbarkeit erforderliche Einsicht bei Jugendlichen und Taubstummen (vgl. Code d’instr. crim.
art. 340: „L'’accusé a-t-il agi avec discernement“?!; Strafaufhebungsgründe; Strafmindeumgs-
und -erhöhungsgründe (S§ 295, 297, 298 St PO.).
Außer den soeben aufgeführten, in eine Nebenfrage zu nehmenden Partikelchen darf aus
der Schuldfrage, sie sei Haupt= oder Hilfsfrage, nichts zum Behufe gesonderter Frageformulierung
herausgenommen werden. Die Frage: „Ist der Angeklagte schuldig —?“ umfaßt die Schuld-
frage voll, einschließlich der Momente der Rechtswidrigkeit, der Schuldhaftigkeit, der Straf-
barkeit usw.; es ist unzulässig, eine Separatfrage nach Notwehr, Trunkenheit, Eigenschaft als
Abgeordneter usw. zu stellen. Die Nötigung für die Geschworenen, alle diese Momente zu
prüfen, liegt bereits in dem: „Ist der Angeklagte schuldig —?"“ Alle diese Punkte gehören zu den
sog. Subintelligenda. Denn zur Herstellung der Frageformel dienen, wie oben gesagt,
lediglich das Strafgesetz im eigentlichen Sinne (insoweit also StGB. in Frage steht, §§ 80 ff.)
und die Sätze über die „Erscheinungsform“ der Tat. Andere als die bisher genannten sub-
intelligenda sind z. B. ferner die aus I§#§ 3 ff. zu beurteilenden Umstände internationalstraf-
rechtlichen Charakters, fermer die Anwendbarkeit eines älteren oder jüngeren Strafgesetzes (5 2
StGB.). Sache der Rechtsbelehrung (siehe IV) ist es, die Geschworenen auf die in der Frage
nicht ausgedrückten subintelligenda hinzuweisen.
IV. An die Fragestellung schließen sich die Plaidoyers der Parteien, aber lediglich mit
Bezug auf die an die Geschworenen gestellten Fragen, an (§ 299 St PO.). Es folgt hierauf
die sog. Rechtsbelehrung, die der Vorsitzende den Geschworenen erteilt. Diese Rechtsbelehrung
ist nicht identisch mit dem sog. Résumé des früheren französischen Rechts (Code d’instruct.
Erimin. art. 336: Le président résumera Taffaire; 1 fera remarquer aux jurés les principales
preuves pour ou contre Paccusé). Vielmehr besteht die Rechtsbelehrung lediglich in einem
die tatsächliche Seite des Falles nicht mit würdigenden „Exposé“: einer Belehrung über die
einschlägigen rechtlichen Gesichtspunkte (§ 300 Abs. 1 StPO.). Gebunden sind die Geschworenen
an die Rechtsbelehrung nicht (anders nach englischem Recht), d. h. sie haben sich über den Inhalt
und die Tragweite der anzuwendenden Rechtssätze selber ihre Meinung zu bilden, sie können
den Rechtssatz anders auslegen, als es der Vorsitzende tut; selbstverständlich ist dagegen, daß
sie, wie jeder Richter, an die anzuwendenden Rechtssätze und Rechtsbegriffe selbst durchaus
gebunden sind.