Militärstrafrecht und Militärstrafverfahren. 243
Oritter Teil. Das Verfahren.
Erster Abschnitt.
Allgemeine Grundsätze.
Ziffer 9. Untersuchungsgrundsatz.
Die Streitfrage, ob das bürgerliche Strafverfahren Anklage- oder Untersuchungs-
verfahren sei, kehrt auch im Militärstrafverfahren wieder. Für den Begriff des Unter-
suchungsgrundsatzes muß entscheidend sein, daß die Untersuchungstätigkeit, die Tätigkeit
des Richters, das Verfahren auf der ganzen Linie beherrscht. Das ist im Militär-
strafverfahren der Fall 1. Die von der MStGO. übernommene Gerichtsverfassung mit dem.
Gerichtsherrn als Träger der Kommandogewalt und damit der Gerichtsgewalt mußte not-
wendig dazu führen, daß auch das alte preußische Untersuchungsverfahren seinen Grundzügen
nach beibehalten wurde; danach ist der Gerichtsherr der eigentliche und alleinige Richter, der
das ganze Verfahren von seiner Einleitung bis zur Strafvollstreckung einschließlich geradlinig
und einheitlich durchführt. Der Untersuchungsführer, der Vertreter der Anklage (Übrigens
meist der Untersuchungsführer selbst), das Gericht sind seine Organe. Seine Anklageverfügung
entspricht der Einleitung der förmlichen Untersuchung der Preuß. MSt#GO. und dem gerichtlichen
Eröffnungsbeschluß der St PO. Sovweit er nicht, wie bei der Strafverfügung, das Urteil selber
spricht, macht er den Spruch des von ihm berufenen Gerichts (ein Gutachten, im Friedens-
verhältnis allerdings von bindender Kraft) durch seine Bestätigungsorder zum eigentlichen
Urteile. Über die dem Untersuchungsverfahren eigene Beschränkung der Verteidigung s. Ziff. 8
oben.
Der Untersuchungsgrundsatz ist nicht überall folgerichtig durchgeführt. Das war schon aus
dem Grunde unmöglich, weil das Verfahren auch mit anderen Grundsätzen durchsetzt werden
mußte, die sich mit dem Untersuchungsgrundsatz teilweise schlecht vereinbaren lassen. Es galit,
die Stellung der Juristen und die Stellung des Beschuldigten (Angeklagten) zu stärken (Ver-
teidigung), daneben die Offentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Verhandlung neben
freier Beweiswürdigung zu sichern. Alte und neue Gedanken sind zu einem in ihrer Art kunst-
vollen Gebilde vereinigt (Rissom). Für die Hauptverhandlung sind, wenn auch nur der Form
nach, Parteistellungen geschaffen, und damit ist, praktisch betrachtet, eine erhebliche Annäherung
an den gemeinen Strafprozeß erreicht.
Ziffer 10. Strafverfolgungszwang.
Der Gerichtsherr muß das Ermittlungsverfahren einleiten, wenn der Verdacht einer
militärgerichtlich zu verfolgenden Straftat vorliegt; er muß die Anklage verfügen, wenn der
Verdacht hinreichend ist, 156, 250. Jede dienstliche Kenntnis genügt; auch eine vertrauliche
Mitteilung kann dienstlich sein; RHM. 11, 249. Einzige unbedenkliche Ausnahme des Grund-
satzes: 253 (Ausschaltung von Verfehlungen, die für die Strafzumessung unwesentlich sind).
Die militärischen Disziplinarvorgesetzten sind verpflichtet, strafbare Handlungen durch Tat-
berichte usw. zu melden, 153 (Unterlassung der Meldung: § 147 MStGB.). Uber die den
Vorgesetzten, bürgerlichen Behörden, Kriegsgerichtsräten usw. auferlegte Pflicht, vor Ein-
leitung des Ermittlungsverfahrens dringliche Anordnungen zur Verhütung der Verdunkelung
des Tatbestandes zu treffen oder richterliche Untersuchungshandlungen zu veranlassen, s. 153, 3.
Die öffentliche Strafverfolgung fällt ausschließlich dem Gerichtsherrn zu; ein Klagerecht anderer
Personen gibt es nicht; vor allem fehlt die Privatklage des Verletzten. Bei den Antrags-
vergehen des gemeinen Rechts ist die militärgerichtliche Strafverfolgung vom Antrag obhngig.
Uber Bufße ist nichts bestimmt; gleichwohl kann auf sie erkannt werden; RM. 1, 14, 2, 181. —
[ber Strafverfolgungszwang s. Arch MilR. 1, 77, 113.
1 Sehr beachtenswert die Beweisführung Rissoms im Beitrag „Verfahren, militärgericht-
liches; allgem. Grundzüge“ im Handw MilR.
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