Kirchenrecht. 323
Auf staatlicher Seite hat man — abgesehen von einem vereinzelt dastehenden normannischen
Kleriker, dem sogenannten Anonymus von Vork, der im Schutz des die staatliche Superiorität
mit ruhiger Sicherheit behauptenden Wilhelms des Eroberers daraus die Vergottung der staat-
lichen Gewalt (Theokratie) folgerte 1 — diese Einheit nur im überirdischen Haupk gesucht oder
in der einträchtigen Zusammenarbeit, der concordia inter sacerdotium et regnum, und infolge-
dessen den unmittelbar göttlichen Ursprung und damit die Gleichordnung beider Gewalten,
eventuell mit dem Notrecht gegenseitiger Vertretung gelehrt. So sagt der Sachsenspiegel,
beide, der Papst und der Kaiser, hätten jeder sein geistliches oder weltliches Schwert direkt
von Gott.
Boehmer, Kirche und Staat in England, 1899, Die Fälschungen Erzbischof Lanfranks von
Canterbury, Studien G. Gesch. d. Theol. und Kirche VIII, 1, 1902; Hatschel k, Englische VG#
(5 18, 1) S. 155 ff., v. Amira, Die Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels, I, 1902,
Taf. 7 mit Beilage; 6 ütschow, Innozenz III. und England, Hist. Bibl. XVIII, 1904.
Für die kirchliche Partei dagegen und für das von ihr geprägte kanonische Recht ergab
das argumentum unitatis die Überordnung der Kirche. Sie ist eben die Einheit, in die das
weltliche Gemeinwesen, an sich das Werk des Teufels und der Sünde , sich einfügen muß, um
als Teil der göttlichen Weltordnung gelten zu können. Der Kirche steht die Substanz (dominium)
auch der weltlichen Gewalt zu; Beweis dafür ist die allgemeine Zehntpflicht und für England,
Irland, Wales, Schweden, Norwegen, aber auch Polen, Ungarn 3, Istrien, Dalmatien und
Teile von Rußland der (in Dänemark freiwillige) Peterpfennig (denarius sancti Petri), eine
von jedem Haus zu entrichtende Steuer. Die Kirche aber wird regiert von Christus und auf
Erden von dessen Statthalter (vicarius Petri, Christi, Dei, bei Bermhard von Claiweauxe: potestate
Petrus, unctione Christus, bei Agidius von Rom: papa quodammodo Deus est), dem Papst.
Vom Papst, dem König der Könige, empfangen Kaiser und Könige, kirchlich gesprochen ad
ministerium, staatsrechtlich ad beneficium (Hadrian IV. und sein Kardinallegat Roland, der
spätere Alexander III., 1157 auf dem Reichstag zu Besancon), lehenrechtlich ad jeudum, zivilistisch
ad dominium utile, ihr Herrscherrecht; er, der Papst, hat beide Schwerter, das geistliche, um
es zu behalten, das weltliche, um es weiterzugeben, damit es von der weltlichen Gewalt im
Dienste der geistlichen geführt werde (Schwabenspiegel und Bulle Unam sanctam). Nur hin-
sichtlich des Umfangs und Grundes dieser Uberlassung kann man auf kirchlicher Seite eine gewisse
Entwicklung der Ansichten feststellen. Der noch vorwiegend praktisch gerichtete Gregorianismus
dachte überhaupt mehr an die einzelnen Konsequenzen (chetatus papae Gregors VII., dessen
Hauptpostulate zusammenfassend). Erst die Späteren, durch die Gegner gezwungen, dem
weltlichen Gemeinwesen einen primären Wirkungskreis zuzugestehen, und anderseits darauf
bedacht, durch Einschränkung der terrena und möglichste Ausdehnung des kirchlichen Noteingriffs-
rechtes (Dekretale Innozenz III. Per venerabilem von 1202 4) die päpstliche Herrschaft zu er-
weitern, haben die Abgabe des weltlichen Schwertes einerseits als durch die Würde der Kirche
und ihrer Diener (sacerdotium: regnum — Seele: Leib, — oben S. 290 A. 1— Sonne: Mond,
Gold: Blei) geboten, anderseits als durch die Entsündigung der Welt (ratione peccati) resolutiv
bedingt erklärt. All diese Schranken verflüchtigen sich aber nach und nach, besonders im Einzelfall
der Anwendung so, daß schließlich die ecclesia die Christenheit auch nach ihrer weltlichen Seite
1 In kecker Umkehrung des Gregorianismus lehrt er, daß, weil mundus und ecelesia identisch,
der gesalbte und gekrönte König vicarius Dei, ja als Amtsträger Gott selbst sei, dessen Werke er
auf Wab treibe, und dessen Kirche, Reich, Volk er regiere. Ihm komme deshalb das Kirchen-
regiment, ihm auch die Übertragung des Amtes an den priesterlichen Kleinkönig durch Ring und
tab zu.
: Quis nesciat reges et duces ab üs habuisse principium, qui Deum ignorantes superbia
rapinis perfidia homicidiis postremo universis sceleribus mundi principe diabolo videlicet agitante
super pares scilicet homines dominari caeca cupiditate et intolerabili praesumtione affectaverunt?
So Gregor VII.
* Interessantes neues Material über die Beziehungen der Kurie zu den Kirchen Ungarns
bringen die Monumenta Romana episcopatus Vesprimiensis IIV, 1896—1908.
Uberall certis causis inspectis temporalem iurisdictionem casualiter exercemus.
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