362 ulrich Stutz.
griffen in das rein geistliche Gebiet. Seinen dramatischen Höhepunkt erreichte der Konflikt,
als am 7. August 1873 Pius IX. an Kaiser Wilhelm ein Schreiben richtete, worin der Papst
mit einer zumal diesem Empfänger gegenüber schlecht angebrachten Schroffheit und Unver-
hülltheit von neuem die alte Identifizierung nicht bloß des Katholizismus, sondern geradezu
des Papalismus mit dem Christentum vollzog 1, und als der sieggekrönte evangelische Helden-
kaiser ihm darauf unterm 3. September eine deutsche Antwort gab 2. Der Kampf, der — eigentlich
ohne Not — auch Baden und Hessen in Mitleidenschaft zog, erschütterte die kirchlichen Verhält-
nisse schwer und schädigte um einer schablonenhaft durchgeführten Parität willen die als solche
gar nicht beteiligte evangelische Kirche auf das empfindlichste mit. Er gefährdete aber, ohne
die Opposition wirksam zu treffen, auch die Ordnung des staatlichen Lebens. Und vor allem
begann er in seinem Verlauf Zwecken zu dienen, die zu unterstützen weder in der Aufgabe noch
im richtig verstandenen Interesse des Staates liegt. So brach denn Bismarck, dem Leo XlII.,
seinen Vorgänger nicht nur durch diplomatisches Geschick und Weite des Blicks 3, sondern auch
durch praktische Klugheit und Mäßigung weit überragend, gleich beim Antritt seines Ponti-
fikats (1878) die Geneigtheit zur Herbeiführung einer Verständigung zu erkennen gegeben hatte,
1880—87 den Kampf mit sicherer Uberlegenheit langsam wieder ab 4. Das, worauf es ankam,
gewalt in Aussicht stellte. Die eigentlichen Maigesetze befaßten sich 1. mit der Vorbildung und An-
stellung der Geistlichen und brachten u. a. das sogenannte Kulturexamen zum Zwecke des Nachweises
der erforderlichen allgemeinwissenschaftlichen Bildung sowie die Anzeigepflicht bei kirchlicher Amts-
übertragung mit dem Rechte des Einspruchs für die Staatsbehörde; 2. mit der kirchlichen Disziplinar-
gewalt und der Errichtung eines Gerichtshofes für kirchliche Angelegenheiten; 3. mit den Grenzen
es Rechtes zum Gebrauch kirchlicher Straf= und Zuchtmittel; 4. mit dem Austritt aus der Kirche.
Es folgten 1874—78 weitere Gesetze, z. B. über die Verwaltung erledigter katholischer Bistümer,
über die Einstellung der Leistungen aus Staatsmitteln für die römisch-katholischen Bistümer und
Geistlichen, über die Orden und Kongregationen, über die kirchliche Vermögensverwaltung in
den katholischen Gemeinden und ferner, am 4. Mai 1874, das sogenannte Reichs-Expatriierungsgesetz.
: Alle Anordnungen, welche seit einiger Heit von der Regierung Eurer Majestät getroffen
werden, zielen immer mehr auf die Zerstörung des Katholizismus hin... Man sagt mir,
daß Eure Majestät die Haltung Ihrer Regierung nicht billige und die Strenge der Maßregeln gegen
die katholische Religion nicht gutheiße .. Wenn Eure Majestät ... es nicht billigt, daß von
Ihrer Regierung auf der begonnenen Bahn weiter fortgeschritten wird und die harten Maßregeln
gegen die Religion Jesu Christi vervielfältigt werden, wird Eure Maojestät dann
versichert sein, daß dieselben nichts anderes zu Wege bringen, als den Thron Eurer Majestät selber
zu unterwühlen? Ich spreche mit Freimut; denn die Wahrheit ist mein Panier, und ich spreche,
um einer meiner Pflichten in erschöpfendem Maße nachzukommen, die mir auferlegt, Allen das
Wahre zu sagen und auch dem, der nicht Katholik ist; denn jeder, welcher die Taufe
empfangenhat, gehört in irgend einer Art und in irgend einer Weise, welche zu erörtern
jetzt kein Anlaß ist, gehört, sage ich, de m Papste an.“
Der Kaiser belehrt zunächst den Papst über die staatsrechtliche Unmöglichkeit eines Aus-
einandergehens von Krone und egierung in Gesetzgebung und Berwaltung und beschwert sich
dann über die politischen Umtriebe eines Teils seiner katholischen Untertanen, die es ihm erschwerten,
Ordnung und Gesetz in seinen Staaten aufrechtzuerhalten, wie es sein Beruf als christlicher
Monarch fordere. „Die Religion Jesu Christihat, wie Ich Eurer Heiligkeit vor Gott
bezeuge, mit diesen Umtrieben nichts zu tun, auch nicht die Wahrheit,
zu deren von Eurer Heiligkeit angerufenem Panier ich mich rückhaltslos bekenne. Noch eine
Außerung in dem Schreiben Eurer Heiligkeit kann ich nicht ohne Widerspruch übergehen, wenn
sie auch nicht auf irriger Berichterstattung, sondern auf Eurer Heiligkeit Glauben beruht, die
Außerung nämlich, daß jeder, der die Taufe empfangen hat, dem Papst angehöre. Der evan-
8 lische Glaube, zu dem Ich Mich, wie Eurer Heiligkeit bekannt sein muß, gleich Meinen
orfahren und mit der Mehrheit Meiner Untertanen bekenne, gestattet uns nicht, in
dem Verhältnis zu Gott einen anderen Vermittler als unseren
Herrn Jesum Christum anzunehmen.“
Sie offenbarte sich u. a. auch in der Offnung des vatikanischen Archivs, die gerade für die
Erforschung der Geschichte des Kirchenrechts von größter Wichtigkeit war und schon jetzt zu einer
erheblichen Bereicherung unseres Wissens geführt hat; Berger, Léon XIII et les études bistori-
ues, B. 6. d. ch. LXIV., 1903; Buschbell, Das Vatikanische Archiv und die Bedeutung seiner
chließung durch Papst Leo XlIII., Frankfurter zeitgem. Broschüren XXII, 1903.
* Der durch die Novellen zur preußischen Gesetzgebung geschaffene Zustand ist unten bei der
Darstellung des geltenden Staatskirchenrechts zu berücksichtigen. Eine kurze Ubersicht des ein-
schlägigen Gesetzesmaterials gibt Kahls Lehrsystem # 15, eine vollständige Zusammenstellung
Hinschius in seiner von 1873—87 reichenden kommentierten Ausgabe der preußischen Kirchen-
gesetze, wozu noch Z. f. Kr. XVIII, 1883, S. 166 ff. zu vergleichen ist.