364 ulrich Stuy.
öffentlichte, der 80 (übrigens schon bei anderer Gelegenheit verurteilte) Sätze und mit ihnen so
ziemlich alle Errungenschaften unserer Zeit, darunter Hauptgrundsätze des geltenden Staatsrechts,
zensurierte. Diese Akte erhielten gerade nur so weit Bedeutung, als man es für nötig fand,
sich für oder wider sie zu erregen; praktisch haben sie weder das Verhältmis von Kirche und
Staat noch auch das Kirchenrecht selbst irgendwie beeinflußt. Dagegen vollzog sich, zunächst
in aller Stille, ein folgenschwerer Umschwung in anderer Richtung. Seit Beginn des Jahr-
hunderts wurde das Schwergewicht der kirchlichen Macht langsam, aber sicher in das spirituelle
Gebiet hinübergerückt, ein Prozeß, der sich beschleunigte, als die Kirche — nicht durch eigenes
Verdienst, sondern im Gegenteil sehr wider ihren Willen — des letzten temporellen Ballasts
in Gestalt des ihr Ansehen schwer schädigenden Kirchenstaates stückweise entledigt wurde, bis
das Temporale am 20. September 1870 von der Landkarte verschwand. Die immer wieder-
holten Proteste dagegen (z. B. Enzyklika Respicientes vom 1. November 1870) vermögen nicht
über den Gewinn hinwegzutäuschen, welchen die Kurie mit größtem Geschick aus dieser Ent-
temporalisierung zu ziehen verstand. Man lernte eben nach und nach doch einsehen, daß es
heutzutage einer potestas directa und eines dominium directum nicht mehr bedarf, damit ein
gewichtiges Wort in katholischem Sinn mitgesprochen werden kann, da ja der konstitutionelle
Rechtsstaat in Gestalt der Gewissens- und Kultusfreiheit, des Versammlungs-, Vereins= und
parlamentarischen Wahlrechts selbst die Mittel zur Verfügung stellt — und wenn er sich nicht
selbst aufheben will, zur Verfügung stellen muß —, die es jeder, also auch der katholischen Welt-
anschauung ermöglichen, sich politisch zur Geltung zu bringen. Und anderseits verkannte man
nicht, daß nunmehr eine Zeit gekommen sei, die für geistige Macht ein volles Verständnis besitzt;
lehrte doch die Geschichte der Neuzeit mit ihren Staatsumwälzungen beredt, daß auch äußere
Machtmittel heutzutage gerade nur so weit reichen wie der Glaube an ihren Träger. Diese
geistige Macht galt es zu organisieren. Das konnte nur geschehen durch einen weiteren Schritt
auf dem über anderthalb Jahrtausende langen Weg der Verquickung des Rechts mit dem Glauben,
der dafür, weil religiöses Leben stets das Bewußtsein der Abhängigkeit von einer Autorität in
sich schließt, die denkbar sicherste Guundlage abzugeben schien. So gelangte man wenige Wochen
vor dem Untergang des Kirchenstaates auf dem seit 1869 versammelten vatikanischen Konzil
am 18. Juli 1870 zu der constitutio Pastor aeternus. Sie dogmatisierte den Primat, erkannte
dem Papst einen in jeder Diözese mit dem Ortsbischof konkurrierenden Universalepiskopat sowie,
als Lehrer der Welt ex cathedra sancti Petri, im Gebiet des Glaubens und der Sittenlehre
die Unfehlbarkeit zu, alles Dinge, die im letzten Grunde schon im mittelalterlichen Papalsystem
gelegen hatten, aber für die damalige Zeit, die nur greifbare Macht verstand, ein totes Kapital
gewesen waren. Jetzt wurde es fruchtbar. Zwar kleinere Kreise, die sich an die neue Lehre
nicht gewöhnen konnten, oder denen weder der Gedanke der Katholizität noch derjenige der
Autorität über alle Schwierigkeiten hinweghalf, sielen ab. Jedoch der bereits anläßlich der
eigenmächtigen Definition des Dogmas der unbefleckten Empfängnis Mariä (Bulle Inefkabilis
Deus vom 8. Dezember 1854) erprobte Episkopat und die erdrückende Mehrheit der Gläubigen
unterwarfen sich, änderte sich doch praktisch am bestehenden Zustand nichts. So wurde die
Allianz von religiöser Überzeugung und kirchlichem Rechtsbewußtsein, in der — und in der
allein — die praktische Bedeutung des Vatikanums liegt, glücklich vollzogen; sie wird der katho-
lischen Kirche die wertvollsten Dienste leisten, wo immer und solange der Glaube die verstärkte
Beschwerung durch das Recht erträgt, sichert sie ihr doch in Zeiten des Kampfs eine vereinte
oder doch altemative Reaktion zweier elementarer Kräfte, indes die kirchlichen Einrichtungen.
selbst, des Zwangs zu formellen Übergriffen und der ehedem verhängnisvollen Verquickung
mit Geld und Geldeswert entledigt, nicht mehr so leicht wirksame Angriffspunkte bieten.
Stutz, Die keirchliche Nechtsgeschichte (oben S. 279), Der neuste Stand des deutschen
Bischofswahlrechtes, Stutz, Kr. A., 58. H., S. 87 ff., 136 f.; Löffler, Papstgeschichte
von der französischen Revolution bis zur S. kr 1911; Labanca, Saggi storici e biografici.
1912; Hourat, Genese historique du — I 1901 Heiner, Der Shllabus, 1905;
XL ppoli, La politica ecclesiastica del conte di’ Cavour, 1898; Tessitore, 1
conte di Cavour e le corporazioni religiose, 1911 (weitere Lit. unten in der letzten Anm. zu 850);
de Cesare, Roma e lo Stato del Papa del ritorno di Pio IX al XX settembre, 1907; Leti,
Es wurde am 20. Oktober 1870 wegen der vorangegangenen Ereignisse auf unbestimmte
Zeit vertagt.