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durch. Daß der Kampf statt durch innere UÜberwindung durch Erdrückung mittelst der Organi-
sation durchgefochten wurde, und daß es dabei nicht ohne schwere Schädigung wahrer Wissen-
schaft abging 1, brachte dem mit der Geschichte der Kirche Vertrauten keine Überraschung; auch
im einzelnen bediente man sich althergebrachter Kampfesmittel (Dekret Lamentabili der Inqui-
sitionskongregation vom 3. Juli 1907 mit einem neuen, 65 Sätze verurteilenden Syllabus,
Bücherzensur, Antimodemisteneid 2). Dabei übersah man freilich, unpolitisch und undiplo-
matisch, wie man bei diesem in den Dienst der Heilsaufgabe der Kirche gestellten Vorgehen
mehr oder weniger mit Absicht war, nur zu leicht die Wirkung solcher Maßnahmen auf das Ganze
des katholischen Kirchenkörpers und auf die Außenwelt, wie man es auch an dem richtigen Ver-
ständnis für die Verschiedenheit der Lage in den einzelnen Herrschaftsgebieten der Kirche fehlen.
ließ. Die Folge war, daß, was am einen Orte die Heilung bewirken sollte, am anderen die
Krankheit erst hervorrief 3, und daß bei den Außenstehenden, insbesondere bei den deutschen
Staatsregierungen, denen zu nahe zu treten gerade Pius X. bei aller Wahrung katholischer
Gundsätze in gewollter, auf die Stärkung der religiös-kirchlichen Stellung bedachter Selbst-
beschränkung femer lag als irgendeinem seiner Vorgänger 4, Anstoß erregt und ihnen Anlaß zu
erfolgreicher Zurückweisung gegeben wurde 5.
Viollet, L. infallibilits du pape et le syllabus, 1904; Eucken, Harnack, Hauck,
Herrmann, Köhler, Mausbach, Meurer, Schnitzer in Hinnebergs Internat.
Wochenschrift II, 1908; Heiner, Der neue Syllabus Pius' X.", 1908, Der Modernismus und
die kirchlichen Maßregeln gegen denselben, A. f. k. Kr. LXXXIX, 1909, Die Maßregeln Pius' X.
gegen den Modernismus, 1910; Schnitzer, Der katholische Modernismus, Z. f. Politik V,
1912; Kübel, Geschichte des katholischen Modernismus, 1909; Gisler, Der Modernismus,
1912; Besse, Le syllabus, T’öglise et les libertés, 1913; Houtin, Histoire du modernisme
catholique, 1913; Anrich, Der moderne Ultramontanismus in seiner Entstehung und Ent-
wicklung, 1909.
Vor allem aber trachtete Pius X. darnach, der Verwirrung des durch den Schutt von Jahr-
hunderten überdeckten kirchlichen Rechtes, aus der freilich die Restauration des 19. Jahrhunderts
1 Die wissenschaftlich bedeutendste Darstellung der alten Kirchengeschichte, die der Katholi-
zismus hervorgebracht hat, Duchesne, Histoire ancienne de I’église (é 1), wurde zuerst von der
Konsistorialkongregation unterm 1. September 1911 für die italienischen Seminare verboten und
dann unterm 22./24. Januar 1912 von der Indexkongregation verurteilt und auf den Index gesetzt.
Über diese und andere, von Pius' X. Enzyklika Pascendi vom 8. September und Motu-
proprio Praestantia Scripturae vom 18. November 1907 sowie Motuproprio Sacrorum Antistitum
vom 1. September 1910 gegen den Modernismus verhängte disziplinäre Maßregeln siehe unten
im geltenden Recht. (S. 443.)
* In Deutschland hatte der Modernismus vor dem Vorgehen gegen ihn kaum einen Vertreter.
* Pius' KX. Konstitution Provida vom 18. Januar 1906 und das unter ihm ergangene
Dekret der Konzilskongregation Ne temere vom 2. August 1907 sind es gewesen, die, ohne
den katholischen Grundsatz der Zugehörigkeit aller rite Getauften zur katholischen Kirche auf-
zugeben, jene die deutschen Mischehen, dieses die akatholischen Christenehen der ganzen Welt auch
bei bloß bürgerlichem Eheabschluß als vollgültig anerkannt und so den nach katholischer Auffassung
beiden bisher anhaftenden Makel des Konkubinats von ihnen genommen haben. Auch ver-
teichnet die Geschichte der katholischen Kirche bis jetzt keine autoritative päpstliche Außerung,
ie in der Anerkennung, wenn auch nicht des evangelischen Kirchentums, so doch des evangelischen
Bekenntnisses so weit geht wie Pius' X. Enzyklika Singulari quacam vom 24. September 1912
betreffend die christlichen Gewerschaften. Es ist dies um so bemerkenswerter, als der Papst in
derselben gegenüber der katholischen Arbeiterschaft, als deren oberster Seelenführer er gerade bei
dieser Gelegenheit besonders bestimmt auftritt, erklärt: Quidquid homo christianus (d. h. der
Katholik) agat, etiam in ordine rerum terrenarum, non ei licere bona negligere quse sunt supra
naturam, immo oportere, ad saummum bonum, tamquam ad ultimum finem, ex christianae sapien-
tiae praescriptis, omnia dirigat: omnes autem actiones eins, quatenus bonae aut malae sunt in
enere morum, id est cum iure naturali et divino congruunt aut discrepant, ludicio et
iurisdictioni Ecclesiae subesse ... Causam socialem controversiasque ei causae
subiectas de ratione spatioque operae, de modo salarü, de voluntaria cessatione opificum, non
mere oeconomicae esse naturae, proptereaque eiusmodi, quae componi, posthabita Ecclesiae
auctoritate, possint .. und als auch er (Handschreiben an Kardinal Fischer, Erzbischof von Köln,
vom 30. Oktober 1906 üÜbereinstimmend mit der Erklärung des Kardinals Vannutelli auf dem
Essener Katholikentag) den Katholiken nur zuerkennt lbertatem quoad es, quse religionem non
attipgunt.
Oben 8 42 S. 363 A. 2.