Kirchenrecht. 389
in völliger Abgeschlossenheit, ja zum Teil in schroffem Gegensatz zueinander gelebt hatten, mit
der Zeit notwendig auch zu einem gewissen Austausch und Ausgleich in verfassungsrechtlicher
Hinsicht. So in Baden schon in der 1821 mit der Union eingeführten Kirchenverfassung!, die
zwischen dem altbadisch-lutherischen episkopal-konsistorialen System und dem presbyterial-
synodal modifizierten der reformierten Pfälzer vermittelte. Von ganz besonderer Bedeutung
aber wurde die rheinisch-westfälische Kirchenordnung vom 5. März 1835 die nach langer Ver-
handlung der preußischen Regierung mit den kirchlichen Organen der beiden Provinzen unter
„Berücksichtigung der verschiedenen, dort bisher geltenden Kirchenordnungen und der ein-
geholten Gutachten der dortigen Synoden für alle Gemeinden beider Konfessionen“ in Kraft
trat. In ihr erhielten im Gegensatz zu anderen derartigen Ausgleichen die reformierten Ver-
fassungselemente das Ubergewicht. Über der Gemeinde mit einem Presbyterium oder Kirchen-
vorstand und eventuell mit noch einer zweiten, größeren Repräsentation steht die Kreisgemeinde,
vertreten durch ein gemeinsames Presbyterium (Kreissynode), mit einem von ihr gewählten
Direktorium (Superintendent, Assessor, Skriba). Die Kirchengemeinden derselben Provinz
bilden die Provinzialgemeinde, ebenfalls mit einem Presbyterium (Provinzialsynode) sowie
mit einem auf sechs Jahre gewählten geistlichen Präses und einem ebensolchen Assessor. Da-
neben stehen aber ein landesherrlich bestellter geistlicher Aufsichtsbeamter, der Generalsuperin=
tendent, und das Konsistorium, dessen geistlicher Direktor jener ist, beide unter dem Ministerium
der geistlichen Angelegenheiten.
Jacobson, Geschichte der Quellen des evangelischen Kirchenrechts der Provinzen Rhein-
land und Westfalen, 1844; Lechler, Geschichte der Presbyterial- und Synodalverfassung, 1854;
Heppe, Die presbyteriale Synodalverfassung der evangelischen Kirche in Norddeutschland, 1868;
Bluhme,Codex des rheinischen evangelischen Kirchenrechts, 1870; Bluhme-Hälschner-
Kahl, Rheinisch-westfälische Kirchenordnung ", 1891; Müller-Schuster, Kirchenordnung
für die evangelischen Gemeinden der Provinz Westfalen und der Rheinprovinz", 1892; Lüttgert,
Evangelisches Kirchenrecht in Rheinland und Westfalen, 1905, mit erstem Nachtrag, 1910; Richter,
Kommentar zur rheinisch-westfälischen Kirchenordnung in der Fassung der neuen amtlichen Aus-
gabe vom 5. Januar 1908, 1908; Uckeley, Die rheinisch-westfälische Kirchenordnung, Lietz-
manns Kl. Texte CIV, 1912.
Auf diese rheinisch-westfälische Kirchenordnung griff man zurück, als nach 1848 die Or-
ganisation der kirchlichen Selbstverwaltung notwendig und die Verwirklichung des nunmehr
entdeckten, angeblich reformatorischen Gemeindeprinzips die Parole wurde. Sie selbst erfuhr
zuvor am 13. Juni 1853 noch eine Revision (weitere am 27. April 1891 mit Ergänzungen vom
1. Juli 1893 und vom 29. September 1897, neueste, zum ersten Male in amtlicher Ausgabe
bekanntgemachte Fassung vom 5. Januar 1908). In Preußen schritt man 1861—64 überall
zur Errichtung von Kreissynoden, 1869 traten zuerst außerordentliche Provinzialsynoden zu-
sammen, und am 10. September 1873 erging eine evangelische Kirchengemeinde- und Synodal-
ordnung für die alten Provinzen, indes 1875 eine außerordentliche Generalsynode berufen
wurde, welche die Generalsynodalordnung vom 20. Januar 1876 zeitigte. Die Ver-
waltung der kirchlichen Exterma ging 1876/77 von dem Kultusminister und den Provinzial-
regierungen an den evangelischen Oberkirchenrat und die Konsistorien über. In ähnlicher Weise
gemischt organisiert waren oder wurden die übrigen Landeskirchen in der preußischen Monarchie
(Hannover, lutherische Kirche 1864, reformierte 1882; Kurhessen 1885; Nassau 1877; Frankfurt
1899; Schleswig-Holstein 1876). Andere Landeskirchen waren schon vorangegangen oder
folgten nach (Oldenburg 1849/563, Braunschweig 1851/1909, Württemberg 1851/54, 1867,
Baden 1861/1904, Sachsen 1868/1873, Hessen 1874/1909, Lippe 1890/1910). Ein neuer, den
Bedürfnissen der Gegenwart entsprechender evangelischer Verfassungstypus ist so entstanden;
er dürfte, zumal wenn es trotz der fast unübersteiglichen Hindermisse gelingen sollte, die lose
Verbindung, welche zwischen den evangelischen Landeskirchen die seit 1851 zusammentretende
Eisenacher Kirchenkonferenz angebahnt hat, zu einem Bund der deutschen evangelischen Kirchen
auszubauen (Deutscher evangelischer Kirchenausschuß seit 1903) und so in Nachholung dessen,
was das Reformationszeitalter versäumte und versäumen mußte, der bedauerlichen Zersplitte-
rung, dem Kleinleben und mancher Engherzigkeit ein Ende zu machen, der evangelischen Kirche
1 In Bayern sogar bereits 1818.