Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

Kirchenrecht. 393 
untergegangen. Die Staaten, die an Stelle jenes, die Kirchen, die an Stelle von diesem 
getreten sind, setzen imperium und sacerdotium weder einzeln noch zusammengenommen 
fort und fügen sich keiner höheren Einheit mehr ein. Der moderne Staat beschränkt sich 
grundsätzlich auf das Diesseits; er ist das Gemeinwesen, das die irdischen Lebensbeziehungen 
seiner Angehörigen, und nur sie, diese aber in sachlicher Unbegrenztheit umspannt. Um- 
gekehrt zielt jede christliche Kirche auf das Jenseits ab; wohl ist sie ein irdischer Verband, aber 
nur zu gemeinschaftlicher Förderung ihrer Mitglieder in deren überirdischer Bestimmung. Schon 
unter den Kirchen ist die Zusammenfassung zu einer höheren Gemeinschaft ausgeschlossen, da 
jede, prinzipiell ausschließlich, das Heil allein oder doch am besten zu vermitteln beansprucht. 
Vollends ein zwischen-staatlich-kirchlicher Verband muß als ein Ding praktischer und theoretischer 
Unmöglichkeit erscheinen. Ja noch mehr: die modernen Staaten und die Kirchen sind über- 
haupt inkommensurable Größen. 
S K 61 smann, Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sic stantibus, 1911, 
,153 ff. 
Hieraus folgt, daß über Staat und Kirche niemals eine Ordnung rechtlichen Charakters 
besteht oder auch nur bestehen könnte. Die Berührungen beider sind lediglich zufällige, niemals. 
begriffsnotwendige, unter keinen Umständen organische. In ihrem eigentlichen Wirkungskreis 
berühren sich Staat und Kirche überhaupt nur deshalb, weil sie zum Teil dieselben Angehörigen. 
haben. Daneben gibt es allerdings Grenzgebiete, die beide Teile für sich in Anspruch nehmen, 
und zwar jeder auf Grund seiner Rechtsordnung. Gerade bei der Grenzregulierung findet 
aber leicht eine Überschreitung des Gebietes statt, innerhalb dessen die betreffende Norm Recht 
zu sein beanspruchen kann. In solchen Fällen steht man vor formellem, staatlichem oder kirch- 
lichem Recht, während materiell überhaupt kein Recht, sondern ein staatliches Machtgebot gegen- 
über der Kirche oder ein kirchlicher Machtanspruch gegenüber dem Staat vorliegt. Nur wenn 
es über Staat und Kirche einen beide umfassenden Verband gäbe, der Kollisionsnormen auf- 
stellen könnte, ließe sich der Konflikt beider Rechte nach Rechtsgrundsätzen beheben. So aber, 
da es sich nicht einmal um Gemeinwesen derselben Art handelt, entscheidet allein die Macht. 
Hieraus ergeben sich kaum je Unzuträglichkeiten im Verhältnis zu den evangelischen Kirchen, 
die — um davon abzusehen, daß die geschichtliche Entwicklung ihnen in Deutschland dieselbe 
Spitze gegeben hat wie dem Staat —, weil in nachmittelalterlicher Zeit angesichts der werdenden. 
Staatssouveränität entstanden, den Staat als alleinigen Machtträger anerkennen. Nur 
wenn der modere Staat sich so weit vergäße, daß er sich in die Verwaltung von Wort und 
Sakrament einmischen, nach calvinistischer Auffassung auch, wenn er die Kirche hindern wollte, 
sich schriftgemäß einzurichten, nur dann würde für die evangelische Kirche und ihre Glieder die- 
Pflicht erstehen, Gott mehr gehorchend als den Menschen gegen die staatliche Einmischung 
Widerstand zu leisten. Wohl aber besteht auf weiten Grenzgebieten ein grundsätzlicher, unver- 
söhnlicher Gegensatz zwischen dem souveränen modernen Staat und der über ein Jahrtausend. 
hinter dessen Anfänge zurückreichenden katholischen Kirche. Für kürzere oder längere Zeit 
praktisch überbrückt, führt er immer wieder zu Konflikten, bei denen die Kirche schon deswegen 
nicht unfähig zu erfolgreichem Widerstand ist, weil stets nur ein kleiner Teil ihrer universalen 
Organisation in das Gebiet des betreffenden Staates hineinreicht, indes das Schwergewicht 
ihrer Macht außerhalb der staatlichen Herrschaftssphäre liegt. Nach dem Gesagten entscheidet 
in solchem Konflikt allein die Macht, aber freilich eine Macht nicht im Sinne roher, physischer 
Gewalt, sondern in demjenigen einer geistigen, durch äußere Zwangsmittel nur unterstützten 
Vorrangstellung, die den Gesetzen der Sittlichkeit unterworfen ist und von der Übereinstimmung 
mit dem Zeitbewußtsein abhängt. Dies stets sich vor Augen zu halten, ist die Pflicht der Politik, 
die allein das Verhältnis von Staat und Kirche regelt. 
Gladstone, Der Staat in seinem Verhältnis zur Kirche, 1843; Laurent, L’Eglise. 
et I’Etat, 1868; Liberatore, La Chiesa e lo Stato, 1871; Sohm, Das Verhältnis von 
Staat und Kirche, Z. f. Kr. XI, 1873; Zeller, Staat und Kirche, 1873; Gefscken, Staat 
und Kirche in ihrem Verhältnis geschichtlich entwickelt, 1875 (dazu Fromann, Z. f. Kr. XIV, 1879, 
XV, 1880); Maassen, Neun Kapitel über freie Kirche und Gewissensfreiheit, 1876; 
Martens, Die Beziehungen der Überordnung, Nebenordnung und Unterordnung zwischen 
Kirche und Staat, 1877; Minghetti, Stato e chiesa“, 1878, deutsch 1881; Hinschius,
	        
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