396 Ulrich Stutz.
Form die Trennung durchgeführt Brasilien (1896), Genf (30. Juni 1907) und, auf das ver-
mögensrechtliche Gebiet beschränkt, Basel-Stadt (6. März 1910) 1. Denn, folgerichtig durch-
geführt, bedingt das System unter Verzicht auf alle und jede Kirchenhoheit samt den daraus
fließenden Aufsichtsrechten die Gleichstellung der Kirchen mit gewöhnlichen nichtprivilegierten
Vereinen (bloße Vereinshoheit). Als Privatverein (ev. mit Treuhänderm, trustees, z. B. dem
Bischof, dem Generalvikar, dem Pfarrer und einem Laien als Vertretern eines trust und,
für das kirchliche Eigentum, mit der Einrichtung der corporation sole, d. h. der juristischen
Persönlichkeit der Einheit der aufeinanderfolgenden Amtsträger), mit den Angehörigen als
bloßen Mitgliederm, mit den Kirchenbeamten als bloßen Vereinsdienern, mit dem Kirchen-
recht, soweit es mit der Vereinsgesetzgebung verträglich, als bloßem Vereinsstatut, befreit von
der Einmischung des Staates (keine staatliche Mitwirkung bei der Besetzung bischöflicher Stühle,
keine staatlichen theologischen Fakultäten) steht nach diesem System auch die katholische Kirche
da, die eine solche Trennung prinzipiell verwirft 2, die aber, wo sie besteht, über kurz oder
lang dank ihrer vortrefflichen Organisation und vermöge ihrer den Vereinsrahmen mit Leichtig-
keit sprengenden sozialen Bedeutung sie sehr wohl sich zunutze zu machen weiß. Das
System ist mit Rücksicht auf die Vergangenheit der christlichen Kirchen, ihre innige Verkuslpfung
mit dem Volkstum und die daraus für den Staat sich ergebende Unmöglichkeit, sich ihnen
gegenüber gleichgültig zu verhalten, zumal in dem konfessionell gespaltenen Deutschland, auch
vom staatlichen Standpunkt aus zu verwerfen. Mehr den Standpunkt einer von gegenseitigem
Wohlwollen getragenen Gleichordnung vertritt die namentlich von Görres, v. Ketteler, Reichens-
perger und anderen, besonders katholischen Schriftstellern der neuesten Zeit verfochtene Koordi-
nationsthorie. Sie läßt beide Gewalten rechtlich gleich stehen, die Kirche völlig unabhängig
auf kirchlichem, den Staat souverän auf staatlichem Gebiet. Grenzstreitigkeiten sollten durch
Konkordate beseitigt werden. Diese Theorie, im Verhältnis des Staates zur evangelischen Kirche
nicht verwendbar, und in Wahrheit ein Versuch, die katholische Kirche vor irgendwelcher Unter-
ordnung unter den Staat zu bewahren, ist, wie die Erfahrungen lehren, die man in Osterreich
unter dem Konkordat, in Preußen vor dem Kulturkampf damit machte, praktisch unbrauchbar.
Denn wie in der Ehe, so muß in jeder Zweiheit der eine Teil schließlich das entscheidende Wort
sprechen, also entweder der Staat oder — und dabei landen die Koordinationstheoretiker regel-
mäßig, weil sie die Kirche als Verband für überirdische Zwecke höher einschätzen als den bloß
diesseitigen Staat — die Kirche, womit einfach das alte Kirchenstaatstum, wenn auch in ab-
geschwächtester Gestalt (potestas directiva), wieder erreicht wird. Da aber tatsächlich in Deutsch-
land der staatlichen Macht und dem staatlichen Recht die Entscheidung zufällt, erscheint für die
Gegenwart als allein zutreffend ein System, das diese Tatsache zum Ausdruck bringt, ander-
seits aber die kirchliche Selbständigkeit, soweit dies mit der staatlichen Selbstbehauptung irgend-
wie verträglich ist, achtet. Dieses System, das den Scheidungsgedanken in möglichster Berück-
sichtigung der durch die gemeinsame Vergangenheit und die Gemeinschaft der beiderseitigen
Angehörigen gegebenen Verknüpfung beider Gemeinwesen realisiert, ist dasjenige der staat-
lichen Kirchenhoheit.
Vinet, Mémoire en faveur de la liberté des cultes, 1826; Mejer, Die deutsche Kirchen-
freiheit, 1848; Gareis und Zorn, Staat und Kirche in der Schweiz, 2 Bde., 1877/78;
Nippold, Die Theorie der Trennung von Kirche und Staat, 1881; Gagliani, Droit ecclé-
siastique civil belge I, 1903; Görres, Athanasius, 1838; Reichensperger, Kulturkampf
oder Friede"“, 1876; v. Hertling, Recht, Staat und Gesellschaft, 1906; Harle 8 Staat
und Kirche, 1870; Maitland, Corporation sole (5 24); Rothenbucher, Die Trennung
XXXVIII, 1906 veröffentliche Weißbuch: La séparation de I’Eglise et de l'Etat en France, Exposé
et documents. Rome 1905. Weitere Literatur oben 41, 42 und Berichte von Génestal in
D. Z. f. Kr., zuerst XXII 1913.
1 Schlitz, Die Folgen der Trennung von Kirche und Staat in Brasilien St. M.-L. LXX,
1906; Burckhardt, Neuzeitliche Wandlungen des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in
der Schweiz, Pol. Ib. d. schweiz. Eidgen. XXIV, 1910; Speiser, Staatliche Neuordnung des
Verhältnisses von Kirche und Staat in den schweizerischen Kantonen Genf und Basel, A. f. k. Kr.
XCII, 1912; Galante, La separazione dello Stato dalla Chiesa nel paese di Galles (Wales)
Z.z f. R. I, 1911.
:* Pius’ IX. Syllabus th. 55 verdammt den Satz: Ecclesia a statu statusque ab eecclesia
seiungendus est.