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des Ubertritts zu einer anderen, oder um sich gar keiner anzuschließen, und zwar mit der
Wirkung, daß Verpflichtungen gegenüber der verlassenen Kirche ½ nicht zurückbleiben, wie denn
auch der Staat z. B. der katholischen Kirche gegenüber den Ausgetretenen vor Umlagenvoll-
streckung oder Strafexekutionen bewahrt und noch weniger ein Ordens- oder Weihegelübde
und die daraus entspringende Zölibatspflicht anerkennt. Ferner dürfen Andersgläubige selbst
im militärischen Dienstverhältnis nicht zu aktiver Teilnahme an gottesdienstlichen Handlungen
einer fremden Konfession (Prozession, Kniebeugung vor dem Sanktissimum) gezwungen werden.
Auch das bürgerliche Eherecht, die staatliche Standesregisterführung, die Befreiung vom Zwang
zum Besuch eines Religionsunterrichts anderer Konfession und die Unabhängigkeit eines an-
ständigen Begräbnisses von der religiösen Stellung des Verstorbenen gehören hierher. Natürlich
sind aber beide Freiheiten mit Rücksicht darauf, daß sie von einer Gesamtheit, innerhalb derselben
und nur, soweit mit deren Interessen vereinbar, gewährt werden, nicht unbeschränkt. Sie
bestehen nur vom Zeitpunkt der Religionsmündigkeit an — die meisten Landesgesetzgebungen
setzen als annus discretionis oder Unterscheidungsjahr im Anschluß an ein conclusum Corporis
Evangelicorum von 1752 das vollendete 14., andere das 16. oder ein späteres —, nicht im
Widerspruch zum RötG#B. (keine mormonische oder mohammedanische Vielweiberei) oder
zu staatlichen Pflichten wie der allgemeinen Wehrpflicht (keine Freiheit oder Ablösungsbefugnis
für Quäker), nicht entgegen der öffentlichen Ordnung und ihren allfälligen Privilegierungen
(keine Atheistenpredigt auf öffentlicher Straße). Aber nur die Interessen des von konfessio-
neller Bestimmtheit losgelösten Gemeinwesens und der von ihm und um der Gesamtheit willen
aufgestellten Ordnung können als Schranken in Betracht kommen. Die der Innenwelt des
Einzelnen oder seiner Bekenntnisgemeinschaft angehörigen Gefühle hat der Staat nicht zu
schützen. Wie die Auferlegung bürgerlicher Ruhe auch für den Karfreitag unter keinen Um-
ständen eine Verletzung der Gewissens- und Kultusfreiheit bedeutet, so kann gegen Wallsahrten
oder Prozessionen, Aufstellung von Bildern, Ausstellung von Reliquien, Veranstaltungen und
Sammlungen zum Zwecke erlaubter, nicht mit Zwang und anderen wider die staatliche Friedens-
ordnung verstoßenden Mitteln betriebener religiöser Propaganda bei Andersgläubigen nur
vom Standpunkt der Straßen-, Sitten-, Gesundheits= oder Sicherheitspolizei 2 aus mit Gumd
eingeschritten werden, nicht schon deshalb, weil Andersgläubige sich in ihren religiösen An-
schauungen verletzt fühlen zu sollen glauben 7; ist es doch ein Hauptvorzug des modernen,
namentlich paritätischen Staates, daß unter seinem Einfluß die konfessionellen Gefühle, soweit
sie negativ-polemischer Natur sind und teils auf anerzogene oder erworbene Vorurteile, teils auf
künstliche Erregung zurückgehen, im Laufe der Zeit allmählich zum Schweigen gebracht werden.
Köhler, Über den Austritt und Ausschluß aus der Kirche, D. Z. f. Kr. III 1893;
A. B. Schmidt, Der Austritt aus der Kirche, 1893, Neue Beiträge zum Austritt aus
der Kirche, Festschrift f. Friedberg, 1908; Moeller, Die Austritte aus den Landes-
kirchen und die Stellung der Kirche dazu, Allgem. Kirchenbl. LIX, 1910 S. 614 ff.; Caro, Das
(preußische) Gesetz betr. den Austritt aus der Kirche vom 14. Mai 1873, 1911; Hellmuth,
Beiträge zum deutschen Staatskirchenrecht, A. d. öff. RP. XXX, 1913; v. Brünneck, Das
Klostergelübdde und seine vermögensrechtliche Bedeutung im Geltungsgebiet des Preuß. As.
seit 1900, Beiträge z. Erläut. d. deutschen Rechts von Rassow, XILV, 1901; Geiger, Die Stel-
lung der Klöster und Ordenspersonen im BGB., A. f. k. Kr. LXXX, 1900; Hobe-Gelting,
Die Rechtsfähigkeit der Mitglieder religiöser Orden und ordensähnlicher Kongregationen nach
kanonischem und deutschem Recht, Breslauer jur. Diss., 1903; 20ening, Die Rechtsstellung der
Orden und ordensähnlichen Kongregationen der katholischen Kirche nach staatlichem Recht I
aber niemals auf die persönliche Aneignung und die lehramtliche Vertretung eines Grundstocks
christlicher Heilswahrheit verzichtet werden kann.
1 Wenigstens nach Verfluß einer gewissen Zeit; so in Preußen nach Ablauf des auf das Aus-
trittsjahr folgenden Kalenderjahres bei vermögenswerten Leistungen.
„ Über die Einwirkung des Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 Anschütz, Preuß.
Verfassungsurkunde (vor § 57) I S. 208 ff.
* Auch das Niederlassungsverbot gegenüber dem Jejuitenorden läßt sich vom Standpunkt
des konfessionell neutralen Staates aus nicht subjektiv und konfessionell mit der Rücksicht auf das
protestantische Empfinden, sondern einzig und allein objektiv und kirchenpolitisch damit rechtfertigen,
daß der Staat als Bewahrer der Friedensordnung alles fernhalten muß, was (mit oder ohne
Grund) den konfessionellen Gegensatz noch weiter zu verschärfen und die Erfüllung der staat-
lichen Aufgaben zu erschweren geeignet erscheint.