Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

460 Ulrich Stutz. 
gilt, hat auch sonst evangelisches Kirchenrecht geschaffen, und zwar wegen weitgehender Üüber- 
einstimmung in religiöser und nationaler Denkweise vielfach gemeinsames (nicht gemeines!) 
Recht. Als gemeinsames, übereinstimmendes Gewohnheitsrecht gilt fermer noch heute subsidiär 
das kanonische Recht in der evangelischen Kirche mit der oben S. 379 gemachten Einschränkung, 
und soweit nicht die neuere Kirchengesetzgebung oder jüngeres Gewohnheitsrecht für einzelne 
Materien oder überhaupt es ausschließen. Die Gesetzgebung selbst ist entweder eine rein staat- 
liche über und in der Kirche (beide Mecklenburg, Sachsen-Altenburg), wogegen, wenn dieser 
Zustand auch dem modernen Kirchenhoheitssystem widerspricht, zumal vom älteren evangelischen 
Standpunkt aus, der dem Staat die äußere Ordnung auch in der Kirche überließ, wenigstens 
ein formales Bedenken nicht besteht. Oder es ist das kirchliche Grundgesetz Bestandteil der 
Staatsverfassung und kann infolgedessen wohl kirchlich ausgebaut, aber nicht, außer im Wege 
der Staatsgesetzgebung, abgeändert werden (Bayern). Oder es beruht auf absoluter kirchen- 
regimentlicher Gesetzgebung (Sachsen-Koburg-Gotha, Schwarzburg-Rudolstadt, Lübeck, Bremen). 
Oder es ist selbständiges (Preußen, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Sachsen-Weimar, 
Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Anhalt, Waldeck, Lippe, Hamburg), wenn auch 
in gewissem Maße staatlich beaufsichtigtes (§ 59) und staatsgesetzlich bestätigtes Kirchengesetz 
bzw. Kirchenverordnung, kirchliche Dienstweisung oder Gemeindestatut. 
Friedberg, Die geltenden Berfassungsgesetze der erangelischen deutschen! Landeskirchen, 
1885, und 4 Er #nzung sbände 1888—94, Fortsetzung inzwischen in d. D. Z. f. Kr Da# ler, 
Kirchenrechtsque en (S. 279) 88 27—31; Friedberg, BR. 75 2; Schoen, Pr. Kr I. 88 2, 
11, 12; Jacobson, Geschichte der Quellen des evangelischen Kirchenrechts der Provinzen 
Preußen und Posen, 1837—39 (ogl. K 53); v. Scheurl, Die Rechtsgeltung der Symbole, in 
seiner S. kr. A., Kirchliches Gewohnheitsrecht, ebenda; Lüttgert, Gibt es ein unmittelbar an- 
wendbares gemeines evangelisches Kirchenrecht?, Göttinger jur. Diss., 1892. 
Zweites Kapitel. 
Die Verfassung. 
8§ 108. Kirche und Kirchengewalt. 
Kirche im Rechtssinn ist nach evangelischer Auffassung die innerhalb menschlicher Ord- 
nung (Gemeinde, Staat, Reich, Nation) in Erscheinung tretende und an rechter Wort- und 
Sakramentsverwaltung äußerlich erkennbare Gemeinschaft der an Gott in Jesu Christo 
Glaubenden. 
Ihr ist als solcher (nicht dem Einzelnen, auch nicht dem Geistlichen unmittelbar!) von 
Gott die Gewalt der Schlüssel, potestas clavium, gegeben, d. h. die Befugnis, das Evangelium 
zu predigen, die Sakramente zu verwalten sowie Sünden zu vergeben und zu behalten, auch 
die notorisch Gottlosen durch das Wort auszuschließen. Jeder kann sich in ihr das Heil selbst 
vermitteln und ist an sich befähigt, die der Kirche übertragene Vollmacht auszuüben (allgemeines 
Priestertum); ein mit besonderer geistlicher Befähigung begabter priesterlicher Stand (Klerus) 
verträgt sich mit der evangelischen Auffassung nicht. Jedoch der Ordnung halber müssen solche 
da sein, die von Berufs wegen für die Kirche in Ausübung von deren Gewalt tätig werden. 
Deshalb hat die Kirche nach göttlichem Ratschluß ein Predigtamt, ministerium verbi divini. 
Ihm und nur ihm ist die Wort- und Sakramentsverwaltung anvertraut (aber Nottaufe bei 
den Lutherischen). 
Aber auch die Gewals, sich zu regieren (potestas regiminis), hat die Kirche. Sie überließ 
sie freilich anfangs dem weltlichen Regiment und konnte das; denn die äußere Ordnung kommt 
für sie allein deshalb in Betracht, weil sie auch menschlicher Verband ist, hat also für sie nur 
untergeordnete Bedeutung. Jedoch seit geistliches und weltliches Regiment und ihr Zusammen- 
gehen aufgehort haben, und dieses, in den Staat übergegangen und durch die Parität zur 
grundsätzlichen Neutralität gelangt, selbst die Geneigtheit, die Kirche von sich abzuschichten und 
eigner Verwaltung zu überlassen, bekundet hat, ist die Eigenverwaltung der Regierungsgewalt 
für sie nicht nur zur Notwendigkeit, sondern geradezu zur Pflicht geworden, weil das weltliche
	        
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