Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

Bölkerrecht. 487 
a) Die Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten ist im Wege der Selbsthilfe erzwingbar. Der 
verletzte Staat darf seine Rechte selbst wahrmehmen. Besitzt er die hierzu erforderlichen Macht- 
mittel nicht, so bleibt der Rechtsbruch im einzelnen Fall allerdings ungeahndet; denn ein höheres 
Zwangsorgan gibt es nicht. Die Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten ist demnach minder sicher 
gewährleistet als die Erfüllung anderer Rechtspflichten. Die Durchsetzung des Rechts im Wege 
der Selbsthilfe ist indessen mit dem Begriff des positiven Rechts nicht unvereinbar; sie ist im 
Gegenteil dem staatlichen Zwang stets vorangegangen. Bekannt ist die Auffassung des germa- 
nischen Rechts: die schwere Missetat ist Friedensbruch und setzt den Verbrecher entweder der 
Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe oder der des Gemeinwesens aus. Im ersteren, 
dem Regelfall, war die Selbsthilfe erlaubt. Noch im Mittelalter war das Fehderecht vielfach 
ein gesetzlich anerkanntes und an bestimmte Voraussetzungen geknüpftes Mittel zur Durchsetzung 
von Rechtsansprüchen. Vgl. den Mainzer Landfrieden vom 15. August 1235, ut nemo sibi 
vindicet sine judicis auctoritate, § 5; Goldene Bulle cap. 17 8J# 2; Reformation von 1442 F 1. 
b) Die Erzwingbarkeit ist kein dem Rechtsbegriff wesentliches Merkmal. Es gibt unzweifel- 
hafte Rechtsnormen, deren Befolgung nicht erzwungen werden kann und darf: die Normen 
des konstitutionellen Staatsrechts, welche die Machtfülle des Monarchen einschränken; die 
Normen des Strafrechts sind auch für den Monarchen verbindlich, obwohl jeder Zwang aus- 
geschlossen ist; der Satz: „Du sollst nicht stehlen“ gilt auch für Ehegatten im Verhältnis zueinander, 
für Verwandte aufsteigender Linie im Verhältnis zu solchen absteigender Linie; trotzdem schließt 
das deutsche Strafrecht in diesen Fällen die Bestrafung des schuldigen Ehegatten oder Aszen- 
denten aus, nicht aber die der Teilnehmer (StGB. 247). 
Garantien für die Beobachtung der völkerrechtlichen Normen bieten die öffentliche Meinung, 
die Meinungsäußerung anderer Staaten, vor allem aber das den Staaten innewohnende Ge- 
meinschafts- und Rechtsgefühl sowie der derzeitige Bestand des Völkerrechts selbst: jeder Staat 
steht zu den anderen in einer unendlichen Fülle von Rechtsbeziehungen, welche er nicht zu zer- 
reißen vermag. 
Die Anerkennung des Völkerrechts haben die Staaten zu unzähligen Malen unzweideutig 
ausgesprochen. 
1. Bei Staatsstreitigkeiten wird die Geltung des Völkerrechts nicht in Abrede gestellt, sondern 
nur darüber verhandelt, ob eine bestimmte Norm auf den Fall anwendbar und wie sie auszulegen sei. 
2. Begeht ein Staat einmal einen Rechtsbruch, so stellt er doch seine Pflicht zur Be- 
obachtung des Rechts nicht in Abrede; mit Hilfe juristischer Deduktionen sucht er vielmehr seiner 
Handlung den Schein des Rechts zu geben und huldigt so noch dessen Macht. 
3. In vielen Erklärungen der Staaten ist die allgemeine Geltung des Völkerrechts aus- 
drücklich anerkannt: Pariser Kongreßakte vom 30. März 1856 Art. 7 — Einleitung zur Pariser 
Seerechtsdeklaration vom 16. April 1856 — Generalakte der Berliner Kongokonferenz vom 
26. Februar 1885 Art. 9 — Einleitung der Haager Abkommen über die friedliche Schlichtung 
intermationaler Streitigkeiten und über das Landkriegsrecht sowie der Londoner Seekriegsrechts- 
deklaration (vgl. auch deren einleitende Bestimmung). 
Tatsächlich erfüllen die Staaten ihre Rechtspflichten viel regelmäßiger und pünktlicher 
als die einzelnen Menschen. Die vereinzelten Fälle der Pflichtverletzung fallen aber öffentlich 
auf; sie werden in unbegründeter Weise verallgemeinert und liefern dann Stoff zu Klagen über 
das Verhalten der Staaten, über die Kraftlosigkeit des Völkerrechts. 
8 3. 3. Geltungsgebiet des Völkerrechts. 
I. Es kann mehrere Völkerrechtsordnungen geben. Verschiedene Staatengruppen bilden 
dann je einen Kreis und erkennen besondere Regeln als für sich bindend an. Die für alle Staaten 
einer bestimmten Gruppe geltenden Rechtssätze bilden das gemeine Völkerrecht. Daß es ein 
solches gibt, wird zu Unrecht geleugnet. Das gemeine Völkerrecht muß von einem neugebildeten 
sowie von einem zu jener Gmppe hinzutretenden Staate in seiner Gesamtheit anerkannt werden 
(vgl. § 9). Partikuläres Völkerrecht gilt nur für diejenigen Staaten, welche die konkrete Norm 
anerkannt haben.
	        
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