Völkerrecht. 489
dafür zu erblicken, daß die beteiligten Mächte sich wechselseitig als Mitglieder der nämlichen
Völkerrechtsgemeinschaft anerkennen. — Zu anderen Staaten — wie Athiopien, Liberia und
Marokko — bestehen nur vereinzelte Verkehrs- und Rechtsbeziehungen. Die Staaten europäischer
Kultur können sich ihnen gegenüber nur auf die nachweislich anerkannten Normen berufen.
§s 4. 4. Geschichtliche Entwicklung.
Literatur. Ward: Enquiry into the foundation and history of the law of nations,
1795; Wheaton: Histoire des progres du droit des gens en Europe et en Amérique depuis la paix
de Westphalie jusqu'a nos jours (4), 2 Bde., Leipzig 1865; Laurent: Etudes sur Thistoire de
P’humanité. Histoire du droit des gens et des relations internationales, 18 Bde., Brüssel
1855 ff.; Pierantoni: Trattato di diritto internazionale, Bd. 1, Rom 1881; Walker: A history of
the law of nations, Bd. 1, Cambridge 1899; Nys: Le droit de la guerre et les précurseus de Gro-
tius, Brüssel 1882; Nys: Les origines de la diplomatie et le droit dambassade jusqu'a Grotius,
Brüssel 1884; Nys: Les origines du droit international, Brüssel 1894; Nys: Etudes de droit inter-
national et de droit politique, Brüssel 1896; Krauske: Die Entwicklung der ständigen Diplomatie,
Leipzig 1885; v. Scala: Die Staatsverträge des Altertums, Leipzig 1898; Lameire: Théorie et
pratique de la conquste dans l'ancien droit, 3 Bde., Paris 1902/05; Cybichowski: Das antike
Völkerrecht, Breslau 1907; Wheeler: Etude sur I’histoire primitive du droit international, Rev.
40 5/30; Schücking: Die Organisation der Welt, Festgabe für Laband, Tübingen 1908; Dubois:
Le principe d’équilibre et le concert européen, Paris 1909; Phillipson: The international law
and custom of ancient Greece and Rome, 2 Bde., London 1911; Schücking: Der Staatenverband.
der Haager Konferenzen, Leipzig 1912; Burckhardt: Die Kultur der Nenaisance in Italien, Bd. 1
Abschnitt 1; Jellinek 280—323; v. Bezold, Gothein, Koser: Staat und Gesellschaft der neueren
Zeit, die Kultur der Gegenwart II V 1, Berlin u. Leipzig 1908.
I. Die Grundlagen. Von jeher haben Staaten Kriege geführt, Gebietserwer-
bungen gemacht, Verträge geschlossen. Die hierbei im Altertum beobachteten Formen weisen
in mancher Hinsicht Ahnlichkeit auf mit denen der modernen Welt. Ein geschichtlicher Zu-
sammenhang ist aber nicht ohne weiteres gegeben. Für einzelne Gebräuche wird sich ein solcher
freilich nachweisen lassen. An dieser Stelle können indessen nicht alle Umstände klargelegt werden,
welche auf das europäische Völkerrecht der Gegenwart eingewirkt haben. Die bedeutendsten
Tatsachen sind:
1. die Verkehrs- und Kulturgemeinschaft der germanischen und romanischen Völker
Europas im Mittelalter;
2. die Entstehung des modernen Staats.
Dem Islam gegenüber fühlten sich die christlichen Nationen als eine Einheit. Dieser
Gedanke konnte durch eine entgegengesetzte Sonderpolitik zeitweise verdunkelt, aber nicht ver-
wischt werden. Die Kreuzzüge legen beredtes Zeugnis für ihn ab. Aber nicht nur im Gegen-
satz zu den Mohammedanern tritt jene Einheit hervor. Sie wurzelt vielmehr in verschiedenen
Faktoren, welche die europäischen Völker innerlich zusammenschlossen. Als solche Faktoren
hebt Holtzendorff mit Recht hervor: die Ausbreitung der Germanen über einen großen Teil
Europa,s, die gleichmäßige Herrschaft der einen Kirche, Lehnswesen und Rittertum, die städtische
Gemeindefreiheit und den Handel (Handbuch des Völkerrechts Bd. I). Durch diese teils realen,
teils idealen Mächte ist eine Verkehrs- und Kulturgemeinschaft geschaffen worden; sie dauert
bis auf unsere Tage fort und hat sich über einen großen Teil der Welt ausgedehnt.
Unmittelbar praktische Bedeutung für die Ausbildung des Völkerrechts erlangte indessen.
nur der intermationale Handelsverkehr der freien Städte. In ihm — zunächst an den Gestaden
des Mittelmeers — haben sich wichtige Rechtssätze ausgebildet; in ihrer Fortentwicklung machen
sie noch heute einen wesentlichen Bestandteil des Völkerrechts aus: das Seerecht und das Kon-
sulatwesen. Unter den mittelalterlichen Seerechtssammlungen nimmt das Consolato del male
den ersten Platz ein.
Zur Herstellung einer Verkehrs- und Kulturgemeinschaft unter den Völkern Europas.
haben die weit verbreiteten ständischen Einrichtungen und das Papsttum erheblich beigetragen.
Sie haben aber der Ausbildung des modemen Völkerrechts — so wie dieses sich entwickelt hat —
in mancher Hinsicht auch entgegengewirkt. Als Lehnsherr nahm der Papst eine direkte Ober-
herrschaft über eine Reihe bedeutender Staatswesen in Anspruch. Als geistliches Oberhaupt