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forderte er Gehorsam von allen weltlichen Gewalten (vgl. die Bulle Unam sanctam vom Jahre
1302; c. 1 Extrav. comm. 1.8). Diesen Ansprüchen auf Weltkherrschaft traten theoretisch die
des Kaisers, praktisch das Selbständigkeitsgefühl aller Landesherren gegenüber. Die weltliche
Politik machte den Papst zum Verbündeten der Vasallen gegen ihren Lehnsherm. Er war
eine außerhalb des Staats stehende Macht und gebot den Untertanen eventuell Widersetzlichkeit
gegen ihren Staat. Eine unabhängige, keiner höheren Gewalt unterworfene Staatsgewalt
wurde weder von außen, vom Papsfte, noch im Innern von den Vasallen anerkannt, welche
unter Berufung auf ihn den Gehorsam verweigerten.
Der mittelalterliche Staat beruhte, wie Ranke sagt „auf einer Freiheit des Individuums
und der Korporationen, die jeden Einfluß der zentralen Gewalten sorgfältig abzuwehren suchte“".
Er „war noch nicht geschlossen, sondern seine Geistlichkeit von einem entfernten Oberhaupt
abhängig, sein Adel und seine Städte dergestalt gespalten, daß es jeder mehr mit seinen Standes-
genossen in anderen Ländern als mit seinen Mitbürgern in demselben Lande hielt“ (Ranke:
Die Osmanen und die spanische Monarchie 176). Die Freiheit des Individuums war freilich
keine allgemeine, wie im modemen Staat, dafür aber eine um so größere auf seiten der ein-
zelnen bevorrechteten Personen. Ihre und der Stände Freiheit und Selbständigkeit traten
Der Staatsgewalt entgegen. Sie standen zwischen dem Landesherrn und der Masse der Unter-
tanen. Im inneren Kampf zersplitterten sich die Kräfte. Jedes größere auswärtige Unter-
nehmen hing davon ab, ob die Vasallen und wiederum deren Aftewasallen der Lehnspflicht
entsprachen oder nicht.
Für die Entwicklung des Völkerrechts war deshalb die Uberwindung des ständischen Staats-
wesens und der päpstlichen Machtansprüche von größter Bedeutung. Die entscheidenden Tat-
sachen fallen in das Zeitalter der Reformation, in die Zeit vom Ende des 15. Jahrhunderts
bis 1648.
Die kirchliche Spaltung setzte der Weltherrschaft des Papstes ein Ende. In protestantischen
Ländern wurde sie nicht mehr anerkannt. Aber auch das Verhältnis des Papstes zu den katho-
lischen Staaten änderte sich: zur Unterdrückung der Ketzer war er auf die Fürsten angewiesen; die
Stärkung der landesherrlichen Gewalt entsprach oft seinen Interessen.
Der modeme Staat ist in Italien entstanden. Nach dem von Kaiser Friedrich II. in seinem
Königreich beider Sizilien gegebenen Vorbilde richteten sich die zahlreichen Gewaltherrschaften
auf italischem Boden im 14. und 15. Jahrhundert: durch „bewußte Berechnung aller Mittel“,
durch ausschließliches Handeln nach Zweckmäßigkeit erlangten die Tyrannen „fast absolute
Machtvollkommenheit innerhalb der Staatsgrenzen"“. Dem einen Machtzweck mußte alles
sich fügen und dienen. Die bedeutenderen Stadtrepubliken wurden nach gleichen Grundsätzen
regiert (Burckhardt).
Der in Italien zuerst verwirklichte Gedanke des Einheitstaats hat dann in Frankreich,
Spanien und England die Herrschaft erlangt. Im Anschluß an Holtzendorff (Handbuch des
Völkerrechts 1 377/9; vgl. auch Jellinek a. a. O.) seien als charakteristisch sowohl für den modernen
Einheitstaat wie auch für die völkerrechtliche Entwicklung folgende Punkte hervorgehoben:
1. die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des Staatsgebiets. Die in der Hand eines Herr-
schers vereinigten Landesteile bilden nicht mehr rechtlich getrennte politische Gemeinwesen,
die nur durch die Einheit des Landesherrn zusammengehalten werden, aber jederzeit im Wege
der Erbteilung oder sonstwie auseinanderfallen können. Sie werden vielmehr zu einem einheit-
lichen Staatswesen verschmolzen, sollen unter allen Umständen vereinigt bleiben und auch nicht
in Form des Lehnsverbandes einem andern sich unterordnen;
2. die gleichmäßige Unterwerfung aller Landesbewohner unter die Staatsgewalt. Ihrer
Durchführung können persönliche oder Standesvorrechte nicht mehr entgegengehalten werden.
Nur durch manchen Rechtsbruch löste sich der Staat von den mittelalterlichen Verhältnissen
los. Die Berufung der Grafen Egmont und Hoorn auf die den Rittern des goldenen Vließes
zustehende Sondergerichtsbarkeit wies Alba mit dem charakteristischen Ausspruch zurück, daß
er a connu et connait de cette cause par commission de Sa Majesté, comme son souverain
seigneur de ce pays et non comme chef de Tordre de la Toison d'or (Ranke a. a. O. 376). Mit
Beseitigung dieser Vorrechte ging die der Abhängigkeitsverhältnisse Hand in Hand, wenigstens