502 Paul Heilborn.
I. Die beschränkt rechtsfähigen Staaten haben völkerrechtliche Per-
sönlichkeit nur in beschränktem Umfang; in mancher Hinsicht erscheinen sie als Teil eines größeren,
ihnen übergeordneten Staats; sie werden von ihm nicht vertreten, sondern von seinen Handlungen
wie eine staatliche Provinz betroffen. Insoweit sind „ihre Persönlichkeit und ihr staatlicher
Charakter ausgeschlossen"“. Verträge werden vom Oberstaat nicht zugleich im Namen des Unter-
staats geschlossen, erstrecken ihre Wirkung aber auf ihn, sofern ihm die entsprechende Rechts-
fähigkeit abgeht. Der russisch-türkische Friedensvertrag vom 8. Febmar 1879 (Martens: N. R.
Gén. 2. S. 3 468) erwähnt Agypten nicht, obwohl dessen Truppen unter dem Oberbefehl und
der Fahne des Sultans am Feldzug teilgenommen hatten; Agypten war ohne weiteres in den
Friedensvertrag eingeschlossen. Beschränkt rechtsfähige Staaten entstehen einmal, wenn Pro-
vinzen eines größeren Staats eine gewisse staatliche Selbständigkeit erringen, ohne zu voller
Unabhängigkeit zu gelangen: ihre Rechtsfähigkeit erstreckt sich nur auf die ihnen zugewiesenen
Angelegenheiten; im übrigen bleiben sie Teile des Oberstaats. Ober- und Unterstaat bilden
zusammen den Staatenstaat. (Vgl. die Darstellung des Staatsrechts.) Einen anderen Fall
stellt die Gründung eines Bundesstaats (§ 8) dar, sofern dieser die völkerrechtliche Persönlichkeit
der ihm eingegliederten Staaten nicht völlig aufhebt (Amerika), sondern in beschränktem Um-
fang bestehen läßt: das neue Deutsche Reich. — Beispiele der ersteren Art liefemm:
1. Die Staaten des alten Deutschen Reichs (vgl. § 4). Preußen und Osterreich waren
streng genommen nur in ihren nicht zum Reich gehörigen Besitzungen souverän. Die Verbindung
der Staaten mit dem Reich beruhte zum großen Teil noch auf lehnrechtlichen Grundsätzen.
2. Die Vasallenstaaten der Türkei: die Donaufürstentümer Moldau, Walachei, Serbien
und Bulgarien; seit 1878 sind Rumänien und Serbien, seit 1909 ist Bulgarien souverän. —
Ferner Agypten seit 1866. Diese Staaten hatten bzw. haben beschränkte Fähigkeit zum Erwerb
von Rechten und Pflichten durch Vertrag. Fähigkeit zur Unterhaltung diplomatischer Be-
ziehungen war bzw. ist ausgeschlossen. Die vasallitische Unterordnung kommt zum Ausdruck
im Tribut, in der Bestätigung des Herrschers durch den Suzerän (der Khedive kann sogar abgesetzt
werden), zum Teil auch in der Pflicht, einen Vertreter am Hofe des Suzeräns zu unterhalten,
und in der Kriegsdienstpflicht Agyptens. Durch die britische Besetzung und die Einführung
einer internationalen Finanzverwaltung ist die Stellung Agyptens sehr verwickelt geworden.
II. Die geschäftsun fähigen und die beschränkt geschäftsfähigen
Staaten. Erstere können Rechtsgeschäfte nicht vormehmen; ihre Handlungen sind völker-
rechtlich wirkungslos; sie bedürfen eines Vertreters — des Oberstaats —, der für sie handelt.
Die beschränkt geschäftsfähigen Staaten können gewisse Rechtsgeschäfte selbständig vormehmen;
bei anderen werden sie entweder vom Oberstaat vertreten, oder sie handeln zwar selbst, ihre
Handlung ist aber nur wirksam, wenn die Genehmigung des Oberstaats hinzutritt.
Der Oberstaat ist hier Vertreter des Unterstaats, d. h. eine von ihm verschiedene Person.
Handelt er im eigenen Namen, so wird er allein berechtigt und verpflichtet. Für den Unterstaat
kann er rechtliche Wirkungen nur dadurch erzeugen, daß er ein Rechtsgeschäft in dessen Namen
vomimmt bzw. das von diesem vorgenommene Rechtsgeschäft genehmigt. Alsdann wird lediglich
der Unterstaat berechtigt und verpflichtet; seine Persönlichkeit geht nie in der des Oberstaats auf.
Die Verbindung zwischen dem Oberstaat und dem geschäftsunfähigen oder beschränkt
geschäftsfähigen Unterstaat tritt in der Gegenwart meist, aber nicht notwendig in der Form
des Protektorats auf: der Oberstaat übermimmt den Schutz des Unterstaats dritten Staaten
und Empörem gegenüber. Dafür erhält er Einfluß auf die Leitung der auswärtigen Angelegen-
heiten des Unterstaats. In neuerer Zeit sind die Oberstaaten bestrebt, die Unterstaaten der
Geschäftsfähigkeit ganz zu entkleiden. Die auswärtige Vertretung wird dann durch ihre Ge-
sandten und Konsuln besorgt; im Gebiet der Unterstaaten finden sich wohl Konsuln, aber keine
Gesandten dritter Staaten.
Dem Oberstaat gegenüber ist der Unterstaat voll geschäftsfähig; es gibt niemand, der ihn
hier vertreten könnte. Seine inneren Angelegenheiten werden vom Protektorat an sich nicht
berührt. Meist erwirkt aber der Oberstaat noch ein Intewentionsrecht (§ 57) auf diesem Gebiet.
Übt er eine wirkliche Herrschaft im Schutzgebiet aus, so ist das völkerrechtliche in ein staats-
oder kolonialrechtliches Protektorat übergegangen (5 22 Z. 5ti,).