Völkerrecht. 503
Der lehnrechtliche Typus ist hier einem modernen, rein völkerrechtlichen gewichen: an
Stelle der wechselseitigen persönlichen Treupflicht zwischen Suzerän und Vasall ist die Ver-
tragspflicht der Staaten getreten. Der Oberstaat schuldet dem Unterstaat noch Schutz, dieser
ist aber zur Heerfahrt nicht mehr verbunden, an den Kriegen des Oberstaats teilzunehmen nicht
verpflichtet. Auch Ehrerbietung und Hofdienst liegen ihm nicht mehr ob; er entrichtet keinen
Tribut. Nicht er unterhält einen Vertreter am Hofe des Suzeräns, sondern der Oberstaat sendet
einen Residenten zum Unterstaat. Dieser Resident übt den Einfluß des Oberstaats auf die aus-
wärtigen und, soweit zulässig, auch auf die inneren Angelegenheiten des Unterstaats aus.
Kollektivprotektorat Osterreich-Ungarns, Preußens und Rußlands über Krakau 1815/46;
Protektorate Englands über die Jonischen Inseln 1815/63 (Einverleibung in Griechenland), über
Afghanistan 1879, über die Transvaalrepublik 1881/84, über Zanzibar 1890; Protektorate Frank-
reichs über die Gesellschaftsinseln 1842/80, über Kambodscha 1863 (neuer Vertrag 1884), über
Annam 1874 (u. V. 1884), über Tunis 1881 (n. V. 1883), über Madagaskar 1885/96; über Marokko
1912; Kollektivprotektorat Deutschlands, der Vereinigten Staaten von Amerika und Englands
Über Samoa 1889/99, Protektorat der Vereinigten Staaten über Cuba 1903, Japans über Korea
1905/10. — Die ehemalige Südafrikanische Republik (Transvaal) entwickelte sich im Jahre 1884
aus einem geschäftsunfähigen zu einem beschränkt geschäftsfähigen Staat. Die Schutzpflicht
Englands und sein Einfluß auf die auswärtigen Angelegenheiten des Unterstaats wurden aber so
beschränkt, daß die Verbindung dem Protektoratstypus nicht mehr entsprach.
§ 8. 3. Die Staatenverbindungen.
Literatur. Vgl. zu § 7. — Borel: Etude sur la souveraineté et I’Etat feédératif, Bern
1886; Le Fur: Etat fédéral et confédération d'’Etats, Paris 1896; Huber: Die Entwicklungsstufen
des Staatsbegriffs (Zeitschr. f. Schweizer Recht, NF. 23), Basel 1903; Ebers: Die Lehre vom Staaten-
bunde, Breslau 1910; Aall und Gjelsvik: Die norwegisch-schwedische Union, Breslau 1912; Windisch:
Die völkerrechtliche Stellung der deutschen Einzelstaaten, Leipzig 1913; ZVölk R. 1 237; Arch OffK.
27 288; Jahrbuch des öffentlichen Rechts 3 28/9, 4 72/3; Osterreichische Rundschau Bd. 23.
Die Staatenverbindungen sind bereits in der Darstellung des Staatsrechts geschildert
worden. Dort ist auch gesagt, welche von ihnen staats-, welche völkerrechtlicher Natur sind.
Die völkerrechtliche Rechts= und Handlungsfähigkeit der Staatenverbindung selbst und der
einzelnen zu ihr vereinigten Staaten richtet sich nach den hier in den I§ 6 und 7 erörterten
Grundsätzen.
1. Die Personalunion. Die zufällige Vereinigung zweier Staaten unter dem
nämlichen Herrscher hat auf ihre Selbständigkeit, auf ihre völkerrechtliche Rechts- und Hand-
lungsfähigkeit keinen Einfluß. Die Handlung des einen ist für den anderen ohne Wirkung.
2. Die Realunion und der Staatenbund sind dauernde, aus mehreren Staaten
bestehende Gemeinschaften zur gesamten Hand zur Wahrnehmung bestimmter gemeinsamer
Interessen, insbesondere zur Aufrechterhaltung des inneren Friedens und zu gemeinschaft-
licher Verteidigung gegen die Außenwelt (Ebers 268 ff., 303/14; dazu Gierke: Privatrecht 1
#§#l# 79/80). Im Staatenbund werden die gemeinsamen Angelegenheiten von einem besonderen
Bundesorgan, in der Realunion von dem den unierten Staaten gemeinschaftlichen Organ er-
ledigt. Die Gemeinschafter bilden keine neue Person, treten aber, soweit die Gemeinschaft
reicht, als Gesamtmacht auf: sie handeln gemeinschaftlich, haben keine Sonderrechte und -pflichten,
sondern nur Gesamtrechte und -pflichten. Infolgedessen kann der einzelne Staat seinen Anteil
an einem der Gemeinschaft zustehenden Recht auf einen dritten Staat nicht übertragen, sofern
eine Ubertragung überhaupt zulässig ist. Ebensowenig kann er einen gemeinsam geschlossenen
Vertrag für sich allein aufkündigen. Innerhalb seiner Sondersphäre handelt jeder Gemein-
schafter selbständig. Die einzelnen Mitglieder des Deutschen Bundes haben viele Sonder-
verträge mit fremden Mächten geschlossen, — das Bundesverhältnis berührten sie nicht. Auch
bei der Realunion kommen Sondewerträge vor. — Die Gemeinschaft zur gesamten Hand mindert
die Souveränität der verbündeten Staaten nicht. Ihre Beschränkungen wurzeln in der Eigen-
art der von ihnen zur gesamten Hand erworbenen Rechte und Pflichten, nicht in ihrer Rechts-
oder Handlungsfähigkeit.
3. Beim Bundesstaat sind zwei Typen zu unterscheiden, je nachdem die auswärtigen
Angelegenheiten ausschließlich zur Zuständigkeit des Bundesstaats oder zum Teil auch zu der