Völlerrecht. 519
Chablais und Faucigny. Umgekehrt gehen die mit dem abgetretenen Gebiet verknüpften Sewitut-
rechte auf den Erwerber über.
2. Die Rechtsnachfolge erstreckt sich auch auf die Bewohner des abgetretenen Gebiets,
soweit sie Angehörige des Vorgängers waren; sie wechseln die Staatsangehörigkeit, werden
Untertanen des Erwerbers. Gestützt auf frühere Beispiele mildert die Praxis des 19. Jahr-
hunderts die hierin liegende Härte gern durch den Vorbehalt der Options- und Auswanderungs-
freiheit: die Bewohner des abgetretenen Gebiets dürfen das Land des Erwerbers binnen be-
stimmter Frist verlassen, nachdem sie erklärt haben, daß sie die alte Staatsangehörigkeit be-
wahren wollen. Die privatrechtlichen Rechtsverhältnisse der Bewohner werden weder von
der Gebietsabtretung noch von der Auswanderung berührt.
Die eine Zeitlang namentlich in Frankreich viel verfochtene Plebiszittheorie ist auch von
den neueren französischen Forschern (Bonfils, Chrétien, Despagnet) aufgegeben. Nach ihr
hätte die Bevölkerung des abzutretenden Gebiets durch Abstimmung zu entscheiden, ob die Ab-
tretung stattfinden solle oder nicht. Hierbei ist übersehen, daß ein Teil des Staats dem Staat
selbst nicht übergeordnet sein kann. Durch Versagung ihrer Zustimmung würde femer die Be-
völkerung des abzutretenden Gebiets den nach Frieden verlangenden Staat zur Fortsetzung
des Krieges zwingen. Die Staatspraxis erachtet die Volksabstimmungen nicht für erforder-
lich; nur ausnahmsweise hat man sie aus Zweckmäßigkeitsgründen zugelassen.
§ 22. 5)R ursprünglicher Erwerb.
Literatur. Heimburger: Der Erwerb der Gebietshoheit, Karlsruhe 1888; Salomon:
L'occupation des territoires sans maftre, Paris 1889; Jee: Etude théorique et pratique sur
D’occupation comme mode d'acquérir les territoires en drolt international, Paris 1896; Ribere:
Les occupations fictives dans les rapports internationaux, Bordeaux 1897; Hasenjäger: Der
völkerrechtliche Begriff der Interessensphäre und des Hinterlandes, Diss., Greifswald 1907; Erich
Kaufmann: Auswärtige Gewalt und Kolonialgewalt in den Vereinigten Staaten von Amerika,
Leipzig 1908; Groussac: Les les Malouines, Buenos Aires 1910; Jerusalem: Über völkerrecht-
liche Erwerbsgründe (Festgabe der Juristenfakultät Jena für Thon), Jena 1911; ArchOffR. 6 193;
Rev. 18 113, 244, 433, 573, 19 371, 23 243, 24 170, 25 58, 27 417, 474, 36 365, 604, 37 53, 42 434;
Rev. Gén. 1 103, 2 400, 6 113, 10 651, 14 148, 15 78, 16 117, 649; Rivista 6 34, 193. Vgl. ferner
die Literatur des Kolonialrechts.
Der ursprüngliche Erwerb der Gebietshoheit vollzieht sich durch Besitzergreifung: An-
eignung, Okkupation. .
1. Gegenstand der Okkupation ist nur staatenloses Gebiet. Staatenlos ist einmal das
ehemalige Gebiet einer untergegangenen, durch Krieg oder Selbstauflösung vernichteten Staats-
gewalt. Staatenlos ist. ferner das Gebiet, welches der Gebietshoheit eines Staats oder aner-
kannten Stammes noch nicht unterstellt war. Die frühere Ansiedlung von Privatpersonen,
welchem Staat sie auch angehören mögen, steht der Oktupation ebensowenig entgegen wie die
nicht anerkannter Stämme. Die Frage, ob Staaten zur Okkupation des von diesen Stämmen
bewohnten Landes berechtigt sind, kann nicht das Völkerrecht, sondern nur die Moral beant-
worten. Das Völkerrecht erblickt in solchem Stamm keine völkerrechtliche Person, sondern eine
Mehrheit von Menschen. Uberläßt dagegen der Häuptling eines anerkannten Stammes einem
Staate Land, so erwirbt letzterer es derivativ. Der Eintritt in ein Schutzverhältnis (unten 5e)
hat aber nicht die Bedeutung einer Gebietsabtretung.
2. Die Okkupation ist völkerrechtliches Rechtsgeschäft, sie kann demnach nur von einem
Staat vorgenommen werden. Der Vertreter muß, wie immer, Vollmacht haben, oder seine
Handlung muß nachträglich genehmigt werden. Die Vollmacht zur Okkupation wird nicht
selten Kolonialgesellschaften übertragen. Privatpersonen und -esellschaften können für sich nicht
okkupieren, wohl aber können sie einen neuen Staat gründen: der deutsche Orden in Preußen,
Liberia, Serawak.
3. Die Oktupationshandlung ist Besitzergreifung. Päpstliche Schenkung (die Bulle
Alexanders VI. von 1493), erste Entdeckung, Entsendung von Missionaren, Anlage privater
Kolonien stehen der Besitzergreifung nicht mehr gleich. Die auf solche Titel in früheren Zeiten
gegründeten Ansprüche haben nur noch Geltung, wenn sie von anderen Staaten anerkannt sind