Völlerrecht. 553
Tatbestands schlägt das Abkommen Art. 9—36 für den Fall vor, daß die Parteien sich auf diplo-
matischem Wege nicht haben einigen können. Ein sehr häufiger Fall! Jeder Staat hält nur
den Tatbericht seiner eigenen Organe für maßgebend; die direkten Parteiverhandlungen kommen
dann über eine beiderseitige Wiederholung der eigenen tatsächlichen Behauptungen und das
danach anwendbare Recht nicht hinaus. Die Kommission soll die streitigen Tatsachen durch eine
unparteiische und gewissenhafte Prüfung in kontradiktorischer Verhandlung aufklären; die
Parteien haben ihr alle Mittel und Erleichterungen zu gewähren, welche zur vollständigen Kennt-
nis und genauen Würdigung der maßgeblichen Tatsachen notwendig sind (Vorlegung von Akten,
Gestellung von Zeugen usw.). Die Kommission beschließt nach Stimmenmehrheit und erstattet
einen Bericht, welcher sich auf die Feststellung der Tatsachen beschränkt und den Parteien Ent-
schließungsfreiheit darüber läßt, welche Folge dieser Feststellung zu geben ist. 1904/5 Inter-
nationale Untersuchungskommission zur Aufklärung des Vorfalls an der Doggerbank (Beschießung
der Huller Fischerboote durch die russische Kriegsflotte, Rev. Gén. 12 Doc. 4, Martens: NBG.
2. Ser. 33 641—716).
II. Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten können durch ein Schiedsgericht ent-
schieden werden. Das von der zweiten Haager Konferenz entworfene Abkommen über die
Errichtung eines intemationalen Prisengerichtshofs — eines wahren Gerichtshofs —, ist nicht
perfekt geworden 1. Steht die Ehre, Unabhängigkeit oder Existenz eines Staats auf dem Spiel,
so ist es noch nie zum Schiedsverfahren gekommen. Meist nehmen die Verträge diese Fälle
ausdrücklich aus (Ehre= und Interessenklausel).
A. Der Schiedsvertrag. Eine Verpflichtung, Staatsstreitigkeiten schiedsrichter-
licher Entscheidung zu unterbreiten, besteht nur kraft Staatsvertrags. Ein solcher Vertrag wird
entweder mit Rücksicht auf einen bereits schwebenden, bestimmten Streitfall und zu dessen Er-
ledigung (Schiedsvertrag i, e. S., Kompromiß, Art. 52) oder im voraus für etwa entstehende
Streitfälle (Art. 39) abgeschlossen. Dieses Schiedsabkommen kann sich auf alle oder nur auf
Streitigkeiten einer bestimmten Art beziehen. Vgl. den von 17 amerikanischen Staaten am
30. Januar 1902 geschlossenen Vertrag über schiedsrichterliche Entscheidung der Streitigkeiten
aus Schadensersatzansprüchen im Interesse der Untertanen (Martens: NRG. 2. Ser. 31 261,
33 143). Das Schiedsabkommen wird häufig einem Vertrage, z. B. einem Handelsvertrage,
als kompromissarische Klausel beigefügt. Es bezieht sich dann auf alle Streitigkeiten über Aus-
legung und Anwendung dieses Vertrags.
Das Schiedsabkommen verpflichtet die Parteien beim Eintritt eines einschlägigen Streit-
falls, den Schiedsvertrag abzuschließen und sich dem Spruch des Schiedsrichters „nach Treu
und Glauben zu unterwerfen“ (Art. 37). Der Schiedsvertrag muß den Streitgegenstand, die
Person der Schiedsrichter oder die Art ihrer Ernennung und den Umfang ihrer Befugnisse be-
zeichnen; auch durch ihn verpflichten sich die Parteien, „sich dem Schiedsspruch nach Treu und
Glauben zu unterwerfen“ (Art. 52). Art. 53 soll verhindern, daß die Ausführung eines
Schiedsabkommens an der Verständigung über den Schiedsvertrag scheitere.
B. Das Schiedsgericht. Die Parteien einigen sich entweder selbst über die Person
der Schiedsrichter oder übertragen die Auswahl einer dritten Macht. Ernannt wurden: Staats-
häupter, Staatsmänner oder Juristen, endlich Kollegien von solchen. Nach Art. 41—50 des
Abkommens ist im Haag ein ständiger, allen Mächten offenstehender Schiedshof gebildet. Zu
ihm entsendet jede Signatarmacht „höchstens vier Personen von anerkannter Sachkunde in Fragen
des Völkerrechts“ als Mitglieder. Wollen zwei Parteien sich an den Schiedshof wenden, so
haben sie — in Ermangelung besonderer Vereinbarung — aus der Gesamtzahl der Mitglieder
je zwei Schiedsrichter zu ernennen; diese wählen ihren Obmann; bei Stimmengleichheit wird
er durch eine oder mehrere unbeteiligte Mächte ernannt (Art. 45). Der Obmann ist Vorsitzender
des Schiedsgerichts. Es hat regelmäßig seinen Sitz im Haag. Während der Ausübung ihres
Amts und außerhalb ihres Heimatlandes genießen die Mitglieder die diplomatischen Vorrechte
und Pefreiungen.
1 Pber den zentralamerilonischen Gerichtshof vgl. Vertrag vom 20. Dezember 1907, Martens:
NRG., 3. Ser., 3 105. Rev. Gén. 16