Full text: Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systematischer Bearbeitung. Fünfter Band. (5)

78 Berthold Freudenthal. 
wie er noch nicht besteht, der vemachlässigten Materie unter den Jüngemrn der Rechtswissenschaft 
Interesse zu werben. 
Die Kriminalstatistik des Deutschen Reiches berichtet, daß jährlich von rund 500 000 Ver- 
urteilungen im Reiche mehr als 260 000 auf Freiheitsstrafe lauten. Es ist, anders ausgedrückt, 
mehr als jede zweite Verurteilung die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe. Bei uns, wie 
anderwärts, ist die Freiheitsstrafe der Angelpunkt des gesamten Strafmittelsystems. Es steht 
und fällt mit ihr. Die Gesamtausgabe für die Bekämpfung von Verbrechen und Verbrechern 
ist im Jahre 1908 von Krohne allein für Preußen auf weit über 100 Millionen Mark jährlich 
geschätzt worden. Ihr Zusammenhang mit dem Vollzuge der Freiheitsstrafe und das materielle 
Interesse des Staates an seiner erfolgreichen Ausgestaltung liegt auf der Hand. Noch höhere 
Werte aber stehen für den Staat und die Allgemeinheit auf dem Spiel. Es handelt sich um 
Verlust oder Wiedergewinnung von Menschenkraft, wie sie in vielen Tausenden von Arbeitern, 
Bürgern und Soldaten verkörpert ist. Diese Interessen sind zahlenmäßig nicht zu erfassen; 
ihr Gewicht wird aber dadurch nicht geringer. 
II. Allgemeine Grundlagen. 
§ 1. Rechtliche Natur des Gefängniswesens 1. 
I. Es gibt, so hat man gesagt, ebensowenig eine Gefängniswissenschaft, wie es eine Hin- 
richtungswissenschaft gibt. Dieser Auffassung, die dem Gefängniswesen den Charakter als 
Wissenschaft abspricht, liegt die Annahme zugrunde, daß es eine bloße Technik sei. Als solche 
ist es denn auch bis zum heutigen Tage meist behandelt worden, und tatsächlich kann man es 
mit Recht von verschiedenen Standpunkten, wie von dem des Strafanstaltsbeamten, des Ge- 
fängnisarchitekten usw. so ansehen. Nicht auch vom Standpunkte der Rechtswissenschaft. Für 
sie ist, was man Gefängniswesen oder Gefängniskunde oder Gefängnislehre genannt hat, in 
Wahrheit Gefängnisrecht, d. h., da die Aufgabe jedes Rechtes in der Abgrenzung von 
Rechten und Pflichten der Rechtsträger liegt, das Recht, das die Rechte und Pflichten des 
die Freiheitsstrafe vollziehenden Staates einerseits, die Rechte und Pflichten der am Straf- 
vollzuge beteiligten Einzelpersonen, insbesondere der Gefangenen anderseits feststellt. 
Es vollzieht sich hier bei der Schaffung des Gefängnisrechtes der gleiche Vorgang, der 
der Umbildung von Verwaltungslehre zu Verwaltungsrecht zugrunde gelegen hat. Nicht als 
ob bei dieser Umbildung die Berechtigung einer Verwaltungslehre und die Notwendigkeit ihrer 
Pflege in Abrede gestellt worden wäre. Man betrachtete aber vom Standpunkte der Rechts- 
wissenschaft die Erkenntnis, daß ihr Interesse innerhalb einer Verwaltungslehre nicht genügend 
zur Geltung komme, als einen Fortschritt und überließ demgemäß die Klarstellung der 
Rechte und Pflichten des verwaltenden Staates rechtlicher Betrachtung, wie sie nur in einem 
Zweige des Rechtes, nämlich im Verwaltungsrechte, möglich erschien. 
So wird hier auch der Gefängnislehre die Daseinsberechtigung keineswegs abgesprochen. 
Es sei vielmehr betont, daß, außer den rechtlichen Fragen nach Ansprüchen und Pflichten der 
am Strafvollzuge beteiligten Rechtssubjekte, eine Reihe nichtrechtlicher Fragen der Behandlung 
harren. Nur stehen für den Juristen jene Rechtsfragen im Vordergrunde, und sie gelangen 
naturgemäß am vollständigsten in einem Zweige des Rechtes, den wir als Gefängnisrecht 
bezeichnen, zur Geltung. Keineswegs wird damit von uns die Erörterung solcher nichtrecht- 
lichen Fragen etwa völlig ausgeschieden. Die technische Seite des Strafvollzuges muß und 
wird vielmehr hier Berücksichtigung finden, wenn sie uns auch nicht um ihrer selbst willen, sondem 
im wesentlichen deswegen angeht, weil die Technik diejenigen Eingriffe des Staates in die 
Rechtssphäre der Gefangenen zu tatsächlicher Verwirklichung bringt, deren rechtliche Regelung 
1 Die nähere Begründung zu s 1 und 2 vgl. bei Freudenthal, Staatsr. Stellung 
und Der Strafvollzug als Rechtsverhältnis. Meiner Auffassung der Grundlagen des Gefängnis- 
wesens haben grundsätzlich zugestimmt Pollitz im Ber. üb. Gef. Hyg. f. d. 3. Int. Wohn.-Kongr., 
Leonhard in Z. 30, 969 u. a., sowie die Begründ. z. Entw. d. Ver. D. Strafanst. 1911; 
besonders erfreulich § 31 Z. 2 dieses Entwurfes selbst; s. jetzt auch Kriegsmann (s. oben 
S. 77) S. 160 ff., 174, 142 uff. u. Salomon in Aschaff. Monatsschr. f. Kr. Pf. 9, 6 ff.
	        
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