Abschnitt IX. Strafgesetzbuch. Verbrechen wider d. öffentl. Ordnung. 603
oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten werden soll, oder in welcher
egen unbekannte Obere Gehorsam oder gegen bekannte Obere unbedingter Ge-
horfam versprochen wird, ist an den Mitgliedern mit Gefängniß bis zu sechs
Monaten, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gesängniß von
einem Monat bis zu einem Jahre zu bestrafen.
Gegen Beamte kann auf Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher
Aemter auf die Dauer von einem bis zu fünf Jahren erkannt werden.
§. 129. Die Theilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken oder
Beschäftigungen gehört, Maßregeln der Verwaltung oder die Vollziehung von
Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern oder zu entkräften, ist an den
Mitgliedern mit Gefängniß bis zu einem Jahre, an den Stiftern und Vorstehern
b6r aierk Inhung mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren zu
bestrafen.
Gegen Beamte kann auf Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher
Aemter auf die Dauer von einem bis zu fünf Jahren erkannt werden.
§. 130. Wer in einer den öffentlichen Frieden 0 gefährdenden Weise ver-
schiedene Klassen?) der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffent-
lich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß
bis zu zwei Jahren bestraft.
S. 130 a. Eingeschaltet durch Ges. 10. Dez. 1871 (R. G. Bl. S. 442).
Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung oder in
Veranlassung der Ausübung seines Berufes 2) öffentlich vor einer Menschenmenge,
oder welcher in einer Kirche oder an einem anderen zu religiösen Versamm-
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Zu Anmerkung 5 auf S. 602.
eine gewisse Organisation und eine Vereinigung auf längere Dauer als
Gegensatz des bloß zeitweiligen Zusammentretens Mehrerer zu verstehen. Die Theil-
nahme an einer solchen Verbindung ist nur an den Mitgliedern, Stiftern und
Vorstehern zu bestrafen, nicht aber an sonstigen Personen, welche ohne eine Unter-
ordnung ihres Willens unter denjenigen der Verbindung nur vorübergehend einmal
oder vereinzelte Male für die Tendenz der Verbindung sich interessiren, beispielsweise
durch Beziehen von Druckschriften der Verbindung und Vertheilen einzelner an
Gesinnungsgenossen.
1) Das Gesetz spricht von der Gefährdung des öffentlichen Friedens nicht als
von dem nachzuweisenden Ergebniß der Anreizung, sondern es charakterisirt damit
die Beschaffenheit des Mittels „in einer Weise, welche gefährdet“ — es fordert,
daß das angewandte Mittel an sich zur Gefährdung des Friedens geeignet gewesen
sei, aber nicht, daß es im konkreten Fall seinen Zweck erreicht und eine wirkliche
Gefahr des öffentlichen Friedens hervorgerufen habe, Erk. R. G. 10. Nov. 1880
(E. Crim. II. 431).
Der §. 130 erfordert nicht, daß die Absicht des Thäters auf die Gefährdung des
öffentlichen Friedens und auf die Herbeiführung von Gewaltthätigkeiten zwischen ver-
schiedenen Bevölkerungsklassen gerichtet ist; zu seiner Anwendung genügt ein vorsätz-
liches Anreizen, Erk. 8. Jan. 1884 (E. Crim. IX. 417).
Der Thatbestand des §. 130 setzt voraus, daß nicht lediglich einzelne verschiedenen
Bevölkerungsklassen angehörige Personen, sondern die Bevölkerungsklassen in ihrer
Gesammtheit zu Gewaltthätigkeiten gegen einander aufgereizt werden, Erk. R. G.
23. Sept. 1887 (Deutsche und Polen).
Der §. 130 erfordert zu seiner Anwendung nicht eine wirklich stattgefundene
Störung des öffentlichen Friedens wie §. 126; seine in §. 130 bezeichnete bloße Ge-
fährdung erfordert zwar gleichfalls narürlich eine erregte, aber doch nicht eine nahe-
liegende Gefahr, Erk 22. Dez. 1886 (E. Crim. XV. 118). Vergl. Erk. R. G.
17. April 1888 (E. Crim. XVII. 309).
2) Eine Mehrheit von Angehörigen desselben Bekenntnisses ist als eine „Klasse
der Bevölkerung“ im Sinne des §. 130 anzusehen, Erk. O. Trib. 21. Mai 1873
(E. LXX. 36).
:) Zur Anwendung des §. 130 a reicht es hin, daß eine konkrete Berufshandlung
den Anlaß zu der fraglichen Erörterung gegeben hat (z. B. eine Ansprache auf dem
Kirchhofe nach beendigtem Gottesdienste und Ablegung des Ornates), Erk. O. Trib.
14. Juli 1873 (J. M. Bl. S. 208).