674 Abschnitt IX. Strafgesetzbuch. Vorläufige Entlassung.
Gefängnißvorständen nur dann zu beantragen ist, wenn bei ihnen die Ueberzengung
besteht, daß der Gefangene sich gebessert habe und die ihm durch die vorläufige Ent-
laffung gebotene Gelegenheit zum Wiederbeginn eines ehrenhaften und gesetzmäßigen
Lebenswandels nicht mißbrauchen werde.
§. 3. Der Gefangene, welchem hiernach die vorläufige Entlassung zu Their
werden soll, muß sich während der vorangegangenen Haft der Anstalts-Ordnung ent-
sprechend betragen und zugleich in seinem Gesammtverhalten denjenigen Ernst an den
Tag gelegt haben, welcher als eine Gewähr dafür angesehen werden kann, daß er den
bei der Entlassung gehegten Erwartungen entsprechen werde
Auf den Umstand allein, daß der Gefangene zu disziplinarischen Rügen keinen
Anlaß gegeben hat, darf der Entlassungsantrag niemals gegründet werden. Anderer-
seits werden vereinzelte leichtere Verstöße gegen die Hausordnung, falls dieselben nicht
auf üblen Willen zurückzuführen find, bei sonst zufriedenstellendem Gesammtverhalten
den Antrag nicht unbedingt ausschließen dürfen.
s. 4. Außer der Führung des Gefangenen während der Dauer der Haft sind
die Lebensverhältnisse in Betracht zu ziehen, denen derselbe nach der Entlassung
entgegengeht.
8 u#cbesondere ist zu prüfen, ob und in welcher Art derselbe an dem Orte, nach
welchem die Entlassung erfolgen soll (Entlassungsort), Unterkommen und Gelegenheit
zu ehrlichem Erwerbe zu finden Aussicht hat.
Die Gefängniß-Vorstände sind verpflichtet, in dieser Beziehung eine spezielle Er-
örterung resp. soweit erforderlich, ihre Vermittelung eintreten zu lassen, und sich zu
diesem Zwecke mit den betreffenden Polizei= und Gemeinde-Behörden, sowie nach Er-
messen mit achtbaren Privatpersonen an dem Entlassungsorte oder in der Nähe des-
selben, bezw. mit den Gefängnißvereinen in Verbindung zu setzen.
Die Entlassung ist nicht in Antrag zu bringen, wenn die Verhältnisse, in welche
der Gefangene an dem Entlassungsorte eintreten würde, zu der Besorgniß Anlaß
geben, daß derselbe dadurch in ein ungeordnetes oder verbrecherisches Leben werde
zurückgeführt werden.
§. 5. Der Antrag des Gefängniß-Vorstandes auf vorläufige Entlassung eines
Strafgefangenen ist an das Oberlandesgericht ), in dessen Bezirk das Strafurtheil
ergangen ist, zu richten und nach Maßgabe der §§. 2 bis 4 dieser Verfügung ein-
gehend zu motiviren.
Dem Antrage sind die Personalakten des Sträflings und eine motivirte Er-
klärung der Konferenz der Anstalts-Oberbeamten oder, wo eine derartige Einrichtung
nicht besteht, des Hausgeistlichen der betreffenden Konfession beizufügen.
§. 6. Das Oberlandesgericht hat über den Antrag des Gefängniß--Vorstandes
unter Beifügung einer kurzen gutachtlichen Aeußerung die Entscheidung des Justiz-
Ministers einzuholen, welche letztere hiernächst durch Vermittelung des Oberlandes-
gerichts dem Gefängniß-Vorstand zugefertigt wird.
Die Ueberreichung der Untersuchungsakten oder eines Auszuges aus denselben
mit dem Bericht des Oberlandesgerichts ist in der Regel nicht erforderlich.
§. 7. Ist die vorläusige Entlassung von dem Justiz-Minister genehmigt worden,
so ist dieselbe von dem Gefängniß-Vorstande unverzüglich zur Ausführung zu bringen,
insofern diesem nicht etwa in der Zwischenzeit Umstände bekannt geworden sind, welche
dem Antrage auf Entlassung entgegengestanden haben würden.
In diesem letzteren Falle hat der Gefängniß-Vorstand dem Oberlandesgericht
zur weiteren Veranlassung sofort Anzeige zu machen.
§. 8. In den Provinzen, in welchen die Vollstreckung der Strafen der Staats-
anwaltschaft obliegt, werden die in der gegenwärtigen Verfügung vorgesehenen Funk-
tionen der Oberlandesgerichte von den betreffenden Behörden der Staatsanwaltschaft
(Ober-Staatsanwalt, — —) wahrgenommen, und sind daher die in den §§. 5 und 7
gedachten Anträge und Anzeigen an diese Behörden zu richten.
1) Wenn es sich um Gefangene handelt, welche von Militärgerichten verur.
theilt sind, so werden die Entlassungs-Anträge der Strafanstalts. Vorstände, sowie die
Anträge der Ortspolizei-Behörden auf Widerruf der Entlassung nicht an die in den
§§. 5 und 8 bezeichneten Behörden, sondern an das Königliche Generalauditoriat in
Berlin gerichtet, Res. 19. Juni 1871 (M. Bl. S. 175).