Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 75
schaften in Natur- und Geisteswissenschaften aus, deren Schwäche
allerdings gerade unter dem hier eingenommenen Gesichtspunkt
klar hervortritt, da alles Staatliche zugleich ein Geistiges ist und
wir daher Wissenschaften begegnen werden, denen eine Zwitter-
stellung zuerkannt werden muß.
II. Das Verhältnis der Staatslehre zu den Natur-
wissenschaften?).
Der Staat ruht, wıe alles Menschliche, auf dem Grunde der
Natur. Zwei ihm wesentliche Elemente gehören der äußeren
Natur an: sein Gebiet und die Anzahl und körperliche Ausstattung
seines Volkes.
1. Dem Staate ist wesentlich ein Gebiet, d. h. ein ihm aus-
schließlich zuständiger räumlicher Herrschaftsbereich, nämlich ein
abgegrenzter Teil des Festlandes, zu dem in den Seestaaten ein
schmaler Streifen des Küstenmeeres neben anderen geringfügigen
Meeresteilen hinzutreten. Das Gebiet als ein Element des Staates
wirkt auf den ganzen Lebensprozeß des Staates bestimmend ein.
Die Naturbedingungen und Wirkungen des Gebietes festzustellen,
t) Die Literatur, welche sich mit dem Verhältnis des Staates zur
Natur beschäftigt, ist in stetem Wachstum begriffen. Vielfach handelt
es sich in derartigen Werken um Darlegung einer natürlichen Gesetz-
mäßigkeit in den staatlichen Erscheinungen ohne jedwede Prüfung der
methodologischen Frage, inwieweit jene einer derartigen Erkenntnis über-
haupt zugänglich sind. Meist werden unfertige biologische Hypothesen
einer oberflächlichen und willkürlichen Konstruktion der gesamten gesell-
schaftlichen Verhältnisse zugrunde gelegt. Für diese Lehren gilt, was
oben von der Soziologie gesagt wurde. Wie vorsichtig sind denn auch
die aus einer umfassenden Weltanschauung entsprungenen einschlägigen
Lehren Spencers im Vergleich mit der Leichtfertigkeit, mit der in
neuester Zeit die ganze soziale Entwicklung ‚naturwissenschaftlich‘
erklärt wird. Bezeichnend für diese Richtung ist die Sammlung von
Monographien „Natur und Staat“, herausgegeben von Ziegler, Conrad
und Häckel, 1903ff., die sich als Lösung einer Preisaufgabe darstellen:
Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung
auf die innere politische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten?
Die zutreffendste Antwort auf eine solche Frage wäre eine Kritik ihrer
Zulässigkeit Etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der 2. Auflage dieser
Staatslehre hat denn auch F.Tönnies jene Preisaufgabe eingehend
kritisiert: Schmollers Jahrb. XXIX 1905 S.27ff. Vgl. auch Rehm
Deszendenztheorie und Sozialrecht (Hirths Annalen 1906 S. 703ff.). —
Eine offenbare Entgleisung bedeutet das Buch von S. Tietze Das Gleich-
gewichtsgesetz in Natur und Staat 1905.