Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 83
Vermöge seines menschlichen Elementes ist der Staat ‘eine
soziale Massenerscheinung und setzt daher eine Vielheit
von Menschen voraus, in der alle natürlichen Unterschiede unter
den Menschen enthalten sind. Er ist mit aufgebaut auf die
natürlichen Unterschiede von Mann und Weib, von Erwachsenen
und Kindern, da er eine dauernde, nicht auf eine Generation
beschränkte Institution ist. Eine Kolonie männlicher Deportierter,
auf einer Insel ihrem Schicksal überlassen, würde höchstens
einen Verein, aber keinen Staat darstellen!). Der Umfang der
dem Staate nötigen Alenschenmasse kann aber ins unendliche
variieren, — von wenigen Tausenden, ja Hunderten bis zu vielen
Millionen. Die Staatslehre hat seit Aristoteles oft den für den
entwickelteren Staat höherer Kulturstufen zweifellosen Satz betont,
daß der Staat über den Umfang einer Familie hinausgehen müsse,
dabei an ein zeitliches Prius der Familie denkend?). Neuere
urgeschichtliche Hypothesen stellen die Horde als den ursprüng-
lichen menschlichen Verband hin. Beide Theorien stimmen aber
darin überein, daß der Staat nicht bloß auf den Bestand einer
Generation gestellt sein dürfe.
Nicht nur die Naturanlage des Volkes, sondern auch Zahl
und Art seiner Bewohner bestimmen den ganzen Lebensprozeß
keiten der Ameisen 1899. Aus der neuesten Literatur Girod-Marshall
Tierstaaten 1901 S.85ff., 136ff.; Ed. Meyer in den Sitzungsberichten
der kgl. preuß. Akademie der Wissenschaften 1907 S. 508f.; dazu A.Gra-
howskvy Recht und Staat 1908 S.7££.
1) Ein anderes Beispiel für die Möglichkeit solcher „Männerstaaten“
bieten die während des Balkankrieges viel genannten Mönchsrepubliken
der Athosklöster; vgl. Fallmerayer Fragmente aus dem Orient II
1845 S.12£.
2) Allerdings nicht immer. Noch Haller hat die theologisch-speku-
lative Lehre von Adam als erstem Souverän vertreten. Dahlmann,
Politik S.3, behauptet: Die Urfamilie ist der Urstaat; jede Familie un-
abhängig dargestellt, ist Staat. Ähnlich Br. Schmidt, Der Staat S. 57.
Bei der dynamischen Natur des Staates kann man auch bei primitiven
Verhältnissen von Naturvölkern der Gegenwart in der Familie bereits
einen Staat erblicken. So erzählt Ratzel, Politische Geographie S. 71
N.12, von Familien als politischen Einheiten bei Melanesiern und Mikro-
nesiern. Darauf gründet‘ Rehm, Staatslehre S.38, die Existenz von
Familienstaaten. Es liegt aber ein Fall zu weit gehender Induktion
(vgl. oben S. 23) vor, wenn man die Kulturstaaten mit jenen primitiven
Verbänden zu einer Einheit zusammenfaßt. Namentlich für die rechtliche
Erfassung des Staates ist solche zu weit getriebene Vergleichung wertlos.
Rehm selbst wird doch einer melanesischen Familie nicht völkerrecht-
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