Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 89
zeichnet!). Da er in seinen ersten Schriften den Staat als zu
beseitigend erklärt und durch eine anarchische, auf freien Ver-
trägen beruhende Gesellschaft ersetzen will, so muß er natürlich
davon ausgehen, Staat und Gesellschaft als scharfe Gegensätze
zu betrachten. In wirksamster Weise aber ist der aus Frankreich
stammende sozialistische Gesellschaftsbegriff ausgebildet und zur
Grundlage ciner eigentümlichen Geschichtsauffassung erhoben
worden von K. Marx und Fr. Engels. Nach dieser Geschichts-
philosophie — dem materialistischen Gegenstück der Hegelschen
Philosophie der Geschichte — ist die ganze Geschichte in ihrem
innersten Kerne nıchts als eine nolwendige, vom bewußten Willen
der Individuen unabhängige Konsequenz der ökonomischen Ver-
hältnisse. Diese führen zur Bildung von Gesellschaftsklassen, die
sich in ausbeutende und ausgebeutete scheiden. Alle gesellschaft-
lichen Erscheinungen bis zu den idealsten hinauf sind durch
die ökonomischen Produktionsverhältnisse bedingt, sind der Über-
bau, der sich auf der jedesmaligen ökonomischen Struktur der Ge-
sellschaft erhebt. Der Staat ist nicht anderes als die Organisation
der jedesmaligen ausbeutenden Klassen zur Aufrechterhaltung ihrer
äußeren Produktionsbedingungen und das innerlich notwendige Ziel
der Geschichte die Erringung der Staatsgewalt durch die Proletarier.
In dieser Zukunftsepoche wird der Staat die gesamte Produktion
gemäß dem Gemeininteresse leiten. Das Ziel der Entwicklung
würde demnach die völlige Einheit von Staat und Gesellschaft
bedeuten. Was das Naturrecht zum Ausgangspunkt seiner
Deduktionen nahm, wird in dieser materialistischen Geschichts-
philosophie Endziel der Geschichte. Damit steht die sozialistische
Gesellschaftslehre auch im schärfsten Gegensatz zur anar-
chistischen. Hier Aufhebung des Staates durch die Gesellschaft,
dort der Gesellschaft durch den Staat?).
1) Über Proudhons Staats- und Gesellschaftslehre vgl. Diehl
Proudhon Il 1890 S.107ff. (Conrad Samml. nationalök. u. statist. Abh.
V13); derselbe Über Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus
2. Aufl. 1911 S. 104 ff.; Michel a.a. 0. S.395ff.; Zenker Der Anarchis-
mus 1895 S. 22ff.; Eltzbacher Der Anarchismus 1900 S.63ff.; der-
selbe im Handbuch Jd. Politik I 1912 S. 171.
2) Populär ist die Marxistische Lehre dargestellt und ergänzt worden
von Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staats 1884, ferner ders. in dem bereits zitierten Werke: Herrn
Dührings Umwälzung der Wissenschaft. Vgl. aus der großen Zahl von
Schriften über die Marx-Engelssche Staats- und Gesellschaftslehre nament-