Full text: Allgemeine Staatslehre

Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 91 
Gemeinverhältnisse. Die Soziologie ist daher die Wissenschaft 
vom gesamten menschlichen Gemeinleben. Die Entwicklungs- 
und Lebensgesetze der Religion, der Sitten, des Rechtes und 
der Sittlichkeit, der Wirtschaft und des Staates zu finden, ist 
die Aufgabe dieser umfassenden Disziplin, in welche alle übrigen 
Wissenschaften einmünden, da sie alle anderen mit der Natur 
und dem Einzelmenschen sich beschäftigenden Lehren zur Voraus- 
setzung hat. In dieser soziologischen Lehre aber werden Gesell- 
schaft und Staat nicht in Gegensatz gestellt, wie in den früher 
erwähnten Theorien, sondern der Staat selbst ist nur eine der 
Gesellschaftsformen. 
So wenig volle Klarheit oder gar Übereinstimmung über das 
Wesen der Gesellschaft herrscht, so stimmen doch die ver- 
schiedenen, zahlreiche Nuancen aufweisenden Theorien über sie 
überein in einem wichtigen Punkte, nämlich der Erkenntnis, daß 
es selbständige Gebilde zwischen Individuum und Staat gebe. 
Dieses Resultat ist nicht nur für die gesamte Auffassung vom 
Menschen, sondern auch für die Staatslehre von der tiefst- 
greifenden Bedeutung. Die neuere Staatslehre hatte bis in unser 
Jahrhundert hinein den Staat aus den als prinzipiell gleich 
gedachten Individuen entstehen lassen und höchstens unter 
antikem Einflusse Familie und Gemeinde als Zwischenbildungen 
anerkannt. Die Ableitung der staatlichen Subordinationsverhält- 
nisse aus den isolierten Individuen oder dem Familien- und 
Gemeindeverbande war aber nur mittelst metaphysischer Speku- 
lation oder juristischer Fiktionen möglich. Die Gesellschafts- 
lehre hingegen hat den antıken Gedanken des Menschen als des 
Loov noAıınöv xai xowwvıxöv dahin vertieft, daß sie das Indi- 
viduum von vornherein als in einer Fülle ihm gegebener, von 
seinem Individualwillen unabhängiger Gemeinschaftsverhältnisse 
stehend aufweist. Diese zum Teil unorganisierl bleibenden Ver- 
hältnisse ruhen auf der vom Naturrecht geleugneten oder doch 
nicht genügend als unaufhebbar beachteten Mannigfaltigkeit, also 
Ungleichheit der Individuen, die somit etwas von Natur Gegebenes, 
nichts künstlich Erzeugtes ist. Dadurch gestalten sich die Gemein- 
schaftsverhältnissein Abhängigkeitsverhältnisse um, die auch da vor- 
handen sind, wo ihnen staatlicher Zwang nicht zur Seite steht. 
Staatliche Herrschaftsverhältnisse sind daher präpariert durch die 
sozialen Abhängigkeitsverhältnisse, die in jeder sozialen Gruppe, 
nicht etwa nur in Beziehungen der wirtschaftlichen Klassen statt-
	        
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