Full text: Allgemeine Staatslehre

Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 95 
urteilung entgangen, und es gibt keine geschichtliche Tat, keine 
Wandlung in den Sitten und Anschauungen, deren Bedeutung 
und Wirkungen nicht von verschiedenen verschieden gewertet 
worden wären. An solchem Gegensatz trägt nicht nur der ÜUnter- 
schied unter den beurteilenden Persönlichkeiten Schuld: vielmehr 
kann jeder Beurteiler aus der Fülle des sozialen Materials Be- 
weise für seine Behauptungen schöpfen. Daher finden Optimismus 
und Pessimismus, Verherrlichung und Verachtung des Mensch- 
lichen, Glaube an eine fortschreitende Entwicklung und Ver- 
neinung des Fortschrittes in der Geschichte gleichermaßen ihre 
Stützen an der ungeheuren Masse sozialer Tatsachen und ihrer 
nachweisbaren Wirkungen. Auch diese Erkenntnis aber birgt ein 
wohltätiges Korrektiv und Schutzmittel in sich, das Extreme zu 
vermeiden und Einseitigkeit erkennen lehrt. 
2. Im engeren Sinne bezeichnet Gesellschaft die Gesamtheit 
menschlicher Vereinigungen, d. h. der durch ırgendein ver- 
bindendes Element zusammengehaltenen menschlichen Gruppen. 
Die Menschen stehen nicht‘ nur nebeneinander, sondern bilden 
kraft psychologischer Notwendigkeit Verbindungen von größerer 
oder geringerer Stärke und Ausdehnung. Diese Verbindungen 
können bewußte, organisierte oder unbewußte, der Einheit er- 
mangelnde, bloß auf der Gemeinsamkeit natürlicher Eigenschaften 
oder Gleichheit der Interessen beruhende sein. Zahllos ist die 
Menge solcher Verbindungen, welche die Analyse der mensch- 
lichen Gemeinverhältnisse darbietet. Die Familie, die Vereine, 
die Gemeinden, die Kirchen, der Staat sind organisierte Ver- 
bindungsformen!!), denen die wirtschaftlichen Klassen, aber auch 
die Nationalitäten, die höheren Berufsarten, die politischen und 
kirchlichen Parteien bis zu den vorübergehenden geselligen Zu- 
sammenkünften des täglichen Lebens, den Volksversammlungen, 
den zu gemeinsamer Tat sich plötzlich zusammenballenden Massen 
einer Großstadt als unorganisierte Vereinigungen gegenüberstehen. 
Wie dieser Gesellschaftsbegriff den Staat unter sich begreift, so 
bildet für ihn auch der Staat keine Grenze. Organisierte und 
unorganisierte Verbindungen erstrecken sich über den Einzelstaat 
hinaus, ja die Staaten selbst können gesellschaftliche Gruppen 
bilden. Der ins Unermeßliche gewachsene internationale Ver- 
  
tv, Hier findet also auch der Sozietätsbegriff der Jurisprudenz als 
eine der möglichen Gesellschaftsformen seine Stelle.
	        
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