Full text: Allgemeine Staatslehre

Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 97 
ein dritter, engster Begriff der Gesellschaft aufzustellen, der die 
Gesellschaftsgruppen mit Ausnahme des Staates umfaßt. 
Der Zusammenhang des Staates mit der also begrenzten Ge- 
sellschaft ist in neuerer Zeit Gegenstand eingehender Ünter- 
suchungen geworden. Selten jedoch wird das gesamte komplizierte 
Wesen der Gesellschaftsgruppen solchen Betrachtungen zugrunde 
gelegt, vielmehr nur ein Element des sozialen Lebens hervor- 
gehoben. Folgender Gedankengang wird häufig als letztes Resultat 
sozialer Erkenntnis des Staates behauptet. 
Alle menschlichen Interessen haben die notwendige psycho- 
logische Tendenz, sich durchzusetzen und zu behaupten. Beides 
erfordert aber Macht. Daher ist in jeder dauernden Gesellschafts- 
gruppe, sei sie organisiert oder nicht, ein Streben nach Macht- 
erwerb und Machtbehauptung vorhanden. Der stärkste soziale 
Machtfaktor ist aber der Staat. Auf die Dauer kann sich nun 
keine soziale Gruppe behaupten, wenn sie nicht vom Staate 
unterstützt oder doch anerkannt wird. Jede soziale Gruppe strebt 
darum nach staatlicher Anerkennung und, wenn sie diese besitzt, 
nach Durchsetzung ihrer Interessen mit staatlicher Hilfe. Daher 
haben die noch nicht zu staatlicher Macht gelangten Gesellschaits- 
gruppen die Tendenz, Macht durch den Staat, dıe stärksten 
sozialen Interessen aber sogar Macht über den Staat zu gewinnen. 
Alle sozialen Gegensätze sind zugleich Spannungsverhältnisse ge- 
sellschaftlicher Machtfaktoren. Deshalb ist im Staate auch ein 
steter Kampf der staatlich herrschenden Gesellschaftsgruppen 
gegen die zur Herrschaft strebenden oder von der Herrschaft ab- 
gedrängten Gruppen wahrzunehmen. Manche staatlichen Institu- 
tionen sind daher Ergebnisse von Kompromissen zwischen den 
einander widerstreitenden Ansprüchen der großen sözialen 
Gruppen, und ein Teil des Rechtes bezeichnet den jeweiligen 
Gleichgewichtszustand der divergierenden gesellschaftlichen Inter- 
essen!). Auf den Zusammenhang zwischen Rechtsbildung und 
der Bewegung in der Gesellschaft hingewiesen zu haben, gehört 
  
1) Am populärsten und wirksamsten hat Lassalle in den beiden 
Vorträgen „Über Verfassungswesen“ und ‚Was nun?“ den Zusammen- 
hang zwischen sozialer und staatlicher Macht dargelegt. Dazu 
Fr.v. Wieser Recht und Macht 1910 S.3ff. Unter den Juristen hat die 
Kompromißnatur des Rechtes am energischsien betont Merkel, Recht 
und Macht, Schmollers Jahrbuch V 1881 S.439ff., Juristische Enzy- 
klopädie 8 40. 
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 7
	        
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