Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 101
stigen Mächte stehen in Berührung und Wechselwirkung mit
den staatlichen. Hierher zählt zunächst die soziale Sitte,
deren Einfluß auf den Ursprung und die erste Ausbildung öffent-
licher Institutionen oft von großem Einfluß geworden ist!), aber
auch heute noch fortdauert. Wo die Sitte. staatliche Einrichtun-
gen stützt, ist sie die stärkste konservative Macht. Ihre Sank-
tionen wirken viel mächtiger. als aller staatliche Zwang. Selbst
wo sie sich ınur im Schaffen und Festhalten äußerer Formen be-
tätıgt, ist sie von nicht geringer Kraft. Das den. Anschauungen
der Verkehrssitte entstammende Zeremoniell hat auch heute seine
Bedeutung für den Staat nicht verloren und kann namentlich in
den internationalen Beziehungen als Bestandteil der comitas gen-
ttum und Kriegsmanier in hervorragendem Maße rechtsbildende
Kraft bewähren. Zur sozialen tritt die politische Sıtte als
eine gewaltige, das Leben beherrschende Macht hinzu. Die Be-
ziehungen zwischen den Trägern öffentlicher Gewalt können, wie
menschliche Beziehungen überhaupt, niemals.bloß durch das Recht
bestimmt werden, wie denn auch die Art der Ausübung öffent-
licher Gewalt gegenüber den einzelnen der freien Entfaltung von
Regeln nicht rechtlicher Natur einen weiten- Spielraum gewährt.
Staatliche Praxis wird durch die Sitte und Unsitte bestimmt, und
Gesetze können durch die Sitte beiseite geschoben, wenn nicht
gar In ıhr Gegenteil verkehrt werden. Von der größten Bedeu-
tung ist der Einfluß der technischen Erfindungen auf die
Gestaltung der Staaten. Die Erfindung der Feuerwaffen hat die
Lehnsmiliz beseitigt, die Söldnerheere ermöglicht, die innere Kon-
solidierung der Staaten durch Erhöhung der Stellung: des zum
absoluten Herrscher aufsteigenden .Monarchen befördert. Erst die
ungeahnte Entwicklung des modernen Kommunikationswesens hat
die Zentralisierung der großen Staaten vollenden geholfen. Der
Telegraph hat den diplomatischen Dienst von Grund aus um-
gestaltet und die strikte Unterordnung der diplomatischen Ver-
treter unter die Befehle der heimischen Regierung ermöglicht,
während früher vermöge der Langsamkeit der Korrespondenz oft
ein selbständiges Handeln der Gesandten, das von bestimmendem
Einfluß auf die Politik ihres Staates sein konnte, nicht zu ver-
meiden war. Rechtspflege und Verwaltung haben durch die Hilfs-
t) Vgl. H.Spencer a.a.0. VII part.IV; .Jhering a.a.O0,. U,
4. Aufl. 1905; Wundt Ethik 1 S.219ff.; Sehmoller Grundriß I S. 48 ff.