108 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
gestaltet. Aus der Finanznot der Fürsten und den ständischen
Steuerbewilligungen sınd manche Institutionen des konstitutio-
nellen Staates hervorgegangen. Die.technischen Erfindungen .der
neuesten Zeit haben die Organisation und :Tätigkeit der staat-
lichen Verwaltung in tiefgehender Weise umgestaltet. Armut und
Reichtum eines Volkes entscheiden über das Maß der Kultur-
leistungen seines Staates. Kraft der Tiefe und Breite ihrer Ge-
samtwirkungen sind die wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesell-
schaft staatsgestaltende Mächte.
Von besonderem Interesse ıst es, die Wirkung der aus den
Unterschieden des Besitzes, d. h. sowohl des ökonomischen als
des Machtbesitzes, sich bildenden gesellschaftlichen Gruppen, der
Klassen, auf die Gestaltung des Staates im Laufe der Geschichte
zu verfolgen!). Eine Geschichte der Klassen und Feststellung der
ihre Entstehung und ihre Wirkungen beherrschenden Gesetze ist,
wie erwähnt, mit Unrecht von den Sozialisten als einziger Inhalt
der Gesellschaftslehre behauptet worden. Auf ihr richtiges Maß
reduziert, ist aber eine spezielle soziologische Disziplin von den
ökonomischen.Klassen von großer Bedeutung für das Ver-
ständnis des Staates. Ihr hoher Wert liegt vor allem darın, daß
die so begrenzte Gesellschaft zumeist das Gebiet ist, auf dem die
Ungleichheit der Individuen am greifbarsten hervortritt. Da diese
Ungleichheit eine der wichtigsten Ursachen aller sozialen Abhängig-
keits- und rechtlichen Herrschaftsverhältnisse ist, so steht gerade
dieser Teil der Gesellschaftslehre in innigsten Beziehungen zur
Staatslehre. Um aber hier zu sicheren Resultaten zu gelangen,
dıe nicht mit dem Stempel agitatorischer Parteitätigkeit geprägt
sind, ist vor allem sorgsamste Detailforschung notwendig. Die
großen geschichtlichen Konstruktionen, die sich in der heutigen
Literatur so breit machen, müssen zurückgestellt und es muß
zunächst an einzelnen, örtlich und zeitlich begrenzten Verhält-
nissen nachgewiesen werden, welchen Einfluß die ökonomische
Ungleichheit sowie die durch Sitte, Bildung und Beruf bedingten
Vorzüge einzelner rechtlich fixierter Stände oder loser Gruppen
auf die konkrete Gestaltung staatlicher Institutionen und staat-
lichen Lebens gehabt haben. Wer wissenschaftlich und daher
leidenschaftslos vorgeht, wird die Identifizierung des Menschen
1) Vgl. aus der neuesten Literatur Fr.v. Wieser Über die gesell-
schaftlichen Gewalten. Rektoratsrede, Prag 1901; derselbe Recht und
Macht 1910; ferner Schmoller Grundriß II 1904 S.496ff.