120 Erstes Buch. Einleitende Untersuchungen.
Weise geeinten, sich fühlende Völkerschaften sich auch nach außen
hin als besondere Staaten darstellen sollen, wird weder von der
antiken noch von der mittelälterlichen Politik gefordert. Auch
in der neueren Zeit geht zunächst die naturrechtliche Staatslehre
von dem abstrakten menschlichen Individuum aus; daher kennt
sie nur den juristischen Gedanken des Staatsvolkes, von der Na-
tion als dem Volk im Kultursinne ist in ihr nirgends die itede.
Noch im 18. Jahrhundert weiß Montesquieu, der alle den Staat
bestimmenden Elemente des Volkslebens zu untersuchen trachtet
und zuerst den Zusammenhang zwischen Recht und Nation
ahnt?!), von dem staatsbildenden Einfluß der Nationen nichts.
Dieser Einfluß ıst eben bedingt durch die Stärke der nationalen
Gefühle. Was sich als Einheit fühlt, will auch diese Einheit
stärken und pflegen; solche Pflege ist aber nur durch eine kräf-
tige Organisation möglich, die nur in einem Staate zu finden ist.
Daher ist die Politik noch der letztvergangenen Jahrhunderte, die
Staaten ohne irgendwelche Rücksicht auf die nationalen Eigen-
schaften der Bewohner vergrößerte, in der neuesten Zeit in euro-
päischen Ländern entweder unmöglich oder gefährlich geworden.
Das Wesen der Nation ist dynamischer Natur. Ein Volk
kann in größerem oder geringerem Grade Nation sein, d.h. je ge-
ringer das Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit ist, desto
weniger ist die Nation ausgeprägt; je größer. die Zahl und je be-
deutungsvoller die Art der einigenden Kulturelemente, desto
stärker und inniger wird das Bewußtsein der Zusammengehörig-
keit in einer nationalen Gruppe. Daher kann auch der einzelne
in höherem oder minderem Grade sich als Glied einer Nation be-
trachten gemäß dem Umfang und der Intensität der nationalen
Kulturelemente, die auf ihn eingewirkt haben. Je höher die eigen-
artige Kultur eines Volkes steigt, je reicher die seine ‚Glieder ver-
bindenden geschichtlichen Vorgänge sind, desto entwickelter auch
die Nation, die deshalb auf niederer Kulturstufe keinen Platz
findet. Um das Nationalgefühl zu erzeugen, muß auch noch der
Gegensatz gegen andere Nationen hinzukommen. Deshalb haben
die Hellenen zwar ein hochentwickeltes Stammesgefühl, aber kein
volles Nationalgefühl in unserem Sinne im Verhältnis zu den Bar-
baren gehabt, da sie diese als eigenartige Kulturträger nicht an-
erkannten, wie denn auch den Römern das Gefühl des Gegen-
1) De l’esprit des lois 1. XIX.