Viertes Kap. Bezieh. d. Staatslehre z. Gesamtheit d. Wissenschaften. 121
satzes zu den von ihnen unterjochten Völkern als gleichartigen
Kulturgemeinschaften mangelte. Ähnliche Erscheinungen zeigen
sich noch heute im Verhältnis der zivilisierten Nationen zu 'halb-
oder unzivilisierten Stämmen. Sofern nicht unmittelbare poli-
tische Interessen des Heimatsstaates in Betracht kommen, fühlt
sich der mit ihnen in Berührung Tretende nicht als Deutscher,
Franzose, Italiener usw., sondern als Europäer oder, den Farbigen
gegenüber, als Weißer.
10. Die Gesamtheit der internationalen Gesellschafts-
verhältnisse muß ebenfalls den Gegenstand spezieller Forschung
bilden, um zu sicheren Resultaten über ihre Bedeutung für das
Leben des Einzelstaates zu gelangen. Ein Teil dieser Verhältnisse
gehört bereits zu den im vorangehenden erwähnten Materien.
Kirchen und andere religiöse Genossenschaften, Gesellschafts-
klassen, Nationen sind häufig nicht in das Gebiet eines Staates
gebannt. Namentlich die großen Kirchen, vor allem die ein-
heitlich organisierte katholische Kirche, und die wirtschaftlichen
Klassen bilden internationale Gemeinschaften von größerer oder
geringerer Intensität. Das gesamte geistige und wirtschaftliche
Leben der Kulturvölker ıst kein national abgeschlossenes, woraus
sıch eine Fülle sozialer Konsequenzen ergibt. Weltausstellungen
und ınternationale Kongresse aller Art sınd die sichtbaren, jähr-
lich wiederkehrenden Folgen des internationalen Gesellschafts-
lebens. Aber auch die souveränen Staaten als Mitglieder der
Völkerrechtsgemeinschaft bilden die nicht organisierte oder doch
nur ın Gelegenheitsorganisationen sich äußernde Staatengesell-
schaft, innerhalb welcher die politischen Interessen wechselnde,
oft einander entgegengesetzte Gruppen bilden, die in ihren gegen-
seitigen Beziehungen den Typus der den Staaten eingeordneten
Gesellschaftsgruppen wiederholen. Eine dankenswerte Aufgabe
wäre es, den besonderen Einfluß zu bestimmen, den die inter-
nationalen Gesellschaftsverhältnisse auf die einzelstaatliche
Rechtsordnung ausüben. Der ganze Verfassungsbau der modernen
Staaten ist durch sie mitbedingt. Die bei allen individuellen
Unterschieden doch in vielen Stücken auffallende Gleichartigkeit
der Struktur der modernen Staaten beruht trotz der Einwirkung
der englischen und französischen Institutionen auf die der übrigen
Staaten keineswegs auf dem bloßen Rezipieren eines äußerlich
nachgeahmten fremden Rechtes, sondern vielmehr auf der Gleich-
artigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese haben auch