Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 141
Gedanke pflegt mit ihr aber nicht verbunden zu werden. Mit
der Lehre von der Realität des Staates ıst noch gar nicht gesagt,
welcher Art die Tatsachen sind, die man als Staaten bezeichnet,
ob sie physischer oder psychologischer Art oder beides sind,
noch ob man unter dem Staat eine Substanz oder ein Geschehen
sich vorzustellen habe. Eine Abart dieser Lehre ist die vom
Naturdasein des Staates!), die insofern bereits ein wenig
mehr Klarheit in sich birgt, als sie die juristische Seite des
Staates seinem natürlichen Dasein gegenüberstellt. Dieses Natur-
dasein wird aber in der Regel als ein objektives, nur in der
Welt der äußeren Dinge, nicht ın der Innerlichkeit menschlicher
Individuen sich abspielendes vorgestellt und teilt damit die Un-
klarheit und Öberflächlichkeit, welche der Tatsachentheorie an-
haften. Hierher gehören endlich noch alle Theorien, welche das
wahre Wesen des Staates in sozialen Tatsachen, in den gesell-
schaftlichen Machtverhältnissen oder dergleichen suchen?). Sie
sind“; Zöpfl a.a.0.1 S.1: „Die Tatsache, daß ansässige Familien
in völkerschaftlicher Einigung auf einem bestimmten Landes-
bezirke bestehen, wird Staat genannt”; Sevdel Grundzüge der all-
gemeinen Staatslehre S.2: „Für unsere Wissenschaft ist der Staat einfach
eine Tatsache“; Bornhak Preußisches Staatsrecht 1888 1 S. 65ff.
(in der 2. Aufl. 1 1911 S. 64. etwas einlenkend); Rehm Staatslehre S.11.
Eine andere Wendung desselben Gedankens bei Rotteck a.a.0. Il
5.45: „Der Staat als Erscheinung ist uns gegeben.“ Duguit L’Etat ]
p.15: „L'Etat, c’est la force materielle, qu’elle que soit son origine;
elle est et reste un simple fait.“ Ähnlich Duguit Traitö I 1911
p.23, 49. Stevenson, American Law Review 398. Bd. 1904 p.551:
„An independent sovereign State — is a political and phvsical fact,
not a theory.“
% Z.B. Schleiermacher a.a.0. S.2 Note: „Wir wollen den
Staat rein als Naturerzeugnis betrachten (pdors)“; C.Frantz Naturlehre
des Staates S.10ff.; über ihn und den ihm verwandten Planta vgl.
van Krieken Über die sogenannte organische Staatstheorie 1875 S. 75 ff.
Neuerdings Bruno Schmidt Der Staat S.1,2: „geradezu gegen-
ständliche Faktizität, Eigenexistenz als objektiv gegebener Natur-
körper muß für den Staat in Anspruch genommen werden“. Dieser
Körper wird durch eine natürlich-reale Kraft, den Assoziationstrieb, zu-
sammengehalten. Solche Auffassung beruht auf der Identifizierung des
Gegensatzes von physischer und psychischer Realität und gehört in das
Gebiet einer realistischen Metaphysik.
2) Etwa Menzel, Hdbch.d. Politik I S.43: „Darnach erscheint der
Staat als die Gesamtheit der Einrichtungen, welche dazu dienen, die
Kollektivkraft eines Volkes zu bilden und über sie zu verfügen.“ Ähn-
lich Berolzheimer Philosophie des Staates 1906 S.23f.