Full text: Allgemeine Staatslehre

Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 145 
aber nur möglich kraft anerkannter Sätze über die rechtliche 
Willensbildung einer Vielheit, wodurch diese eben zur Einheit 
zusammengefaßt wird. Das Volk, scheinbar eine selbstverständ- 
liche Realität, wird also bei näherer Betrachtung zu einem juri- 
stischen Begriff, dessen Objekt mit nichten mit allen einzelnen 
zusammenfällt. Es ist unabhängig von den gerade gegenwärtig 
Lebenden, denn es bleibt im Wechsel der Individuen bestehen. 
Sein Wille ist unsterblich, daher die Beschlüsse einer ver- 
gangenen Generation Gegenwart und Zukunft binden, bis ein ent- 
gegengesetzter Willensakt ihnen die verbindliche Kraft nimmt. 
Der Volkswille selbst ist nicht physischer Wille einer Einheit, 
sondern ein auf Grund von Rechtssätzen aus physischen Willens- 
akten gebildeter juristischer Wille; denn aus dem Willen vieler 
wird psychologisch niemals eiu einheitlicher Wille, am aller- 
wenigsten aber, wenn einer Majorität eine dissentierende Minori- 
tät gegenübersteht. \Willensakte verschiedener Menschen können 
nicht in der Weise addiert und subtrahiert werden, daß solchen 
Rechenoperationen auch ein realer Vorgang entspräche. Viel- 
mehr muß ein bereits feststehender Rechtssatz anordnen, daß 
relative, absolute, Zweidrittel-, Dreiviertel- usw. Majorität als 
Gesamtheitswille zu gelten habe. Denn derartiges versteht sich 
niemals von selbst, wie denn auch geschichtlich das Majoritäts- 
prinzip sich nur langsam entwickelt und in vielen Fällen über- 
haupt nicht gegolten hat. Die auf den ersten Blick so realistisch 
aussehende Lehre vom Staat= Volk erweist sıch daher bei 
näherer Untersuchung als eine unklar gedachte juristische Lehre. 
b)_Der Staat als Herrscher oder Obrigkeit. Auch 
diese Lehre wurzelt in einer populären Vorstellung, die den Staat 
mit der Regierung identifiziert. Die sinnlich wahrnehmbaren 
obrigkeitlichen Personen sind zu allen Zeiten von vielen als die 
Verkörperung und darum als die wahre Realität des Staates be- 
trachtet worden. In der christlichen Welt hat diese Anschauung 
durch die Ausdrucksweise des Neuen Testamentes, das vom Staate 
nur die Obrigkeit betont, eine bedeutsame Stütze erhalten!). In 
  
unionis geeinte unorganisierte Volk, also noch ehe es einen Beschluß 
über die Verfassung gefaßt, bereits als herrschendes Subjekt angesehen. 
Das zeigt sich selbst noch bei Rousseau (Contr. soc. 1,5), der vor Ein- 
setzung aller Regierung das Volk im Gesellschaftsvertrag das Majoritäts- 
prinzip beschließen läßt. 
1), Röm. 13, 1—7, Tit.3,1, Petr. 1, 2, 13——17. Staatsordnung = Ordnung 
des Kaisers, Act. Ap. XVII, 7. Wenn Jesus gleichnisweise von einem 
G Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 10
	        
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