Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 147
habenen Herrscher verlegt, der sich zum Staate verhält wie das
Subjekt zum Objekt. Den in dieser Lehre enthaltenen Dualıs-
mus von Staat und Herrschaft hat Bornhak glücklich über-
wunden, indem er schlankweg den Herrscher für den Staat er-
klärt!). Fragt man, wodurch der Herrscher und die Herrschait
entstehen, so wird man auf die Tatsache der bestehenden Herr-
schaftsverhältnisse verwiesen ?).
Es bedarf keiner tiefgreifenden Erwägungen, um den Grund-
fehler dieser Theorie einzusehen. Ihr scheinbar so empirisch-
realistisch aussehender Herrscher ist nämlich nichis als eine
juristische Abstraktion. Denn nur, indem sie die von dem Wechsel
der sie versehenden Individuen unberührte Institution des Herr-
schers als solchen meint, kann sie der von ıhr nicht beabsıch-
tigten Konsequenz entgehen, daß mit dem Tode des jeweiligen
Herrschers auch der Staat zu existieren aufhört; wird der Herr-
scher als physische Person aufgefaßt, so ist damit jede Kontinuität
des Staatslebens zerstört. Für die Anhänger der Herrschertheorie
in der naturrechtlichen Form war es ein leichtes, die Mängel der
Lehre mit ihren aprioristischen Konstruktionen zu verdecken, —
ruhte doch ihr ganzes Gebäude auf solcher Konstruktion. Die
neuesten Realisten jedoch geraten mit ihrer Methode in unlösbaren
Widerspruch. Sie verwerfen die juristischen Fiktionen und
fingieren doch selbst einen von seinem physischen Substrat los-
gelösten Alenschen, der überdies durch eine staatsrechtliche
generatio aequivoca, das Thronfolgegesetz, das der Herrscher
gibt, und kraft dessen er Herrscher wird, erzeugt wird.
Wer eine Reihe koexistierender Menschen als Einheit erfaßt,
der ırrt nach der Herrschertheorie, wer aber eine Vielheit nach-
1) Preußisches Staatsrecht I S.65, 2. Aufl. S. 67.
?) in neuer Form, nur viel unklarer als bei den Genannten tritt die
Herrschertheorie auf bei Duguit L’Etat I p.19: „L’Etat pour nous,
c’est l’"hoımme, le groupe d’hommes, qui en fait, dans une societe, sont
mat£riellement plus forts que les autres.“ Traite I 1911 p. 49: „Dös lors,
il ne faudrait parler ni des pouvoirs, ni des obligations de l’Etat, mais
des pouvoirs, des obligations des gouvernants et de leurs agents.“ Dem
Rechte entsprechend soll dieser Wille des Starken nur dann sein, wenn
er der sozialen Solidarität Ausdruck gibt, wobei jedes sichere objektive
Kriterium vermißt wird, an dem man im einzelnen Falle erkennen kann,
ob ein Rechtssatz vorliegt oder nicht. — Unter den Zivilisten kommt der
Herrschertheorie nahe Hölder, Natürliche und juristische Personen
1905 S.192ff. und Jherings Jahrbücher 53. Bd. 1908 S. 54ff.
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