Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 149
großen Menschen auch nach der Richtung aufgefaßt, daß er in
ıhm dieselben psychischen Elemente wiederfindet, die er am
Individuum erkennt. Der mittelalterlichen Lehre ist die Analogie
des Staates mit dem menschlichen Organismus seit Johann
von Salisbury!) um so mehr verständlich, als das Gegenstück
des Staates, die Kirche, als die Einheit aller Gläubigen iın Leibe
Christi erscheint, wie denn überhaupt der paulinische Satz, daß
wir alle eines Leibes Glieder sind?), für die organische Auf-
fassung der Gemeinschaftsverhältnisse von großer Bedeutung ge-
worden ıst?). Im scharfen Gegensatz zu diesen Anschauungen
stand aber die naturrechtliche Staatslehre, die in ihren ver-
schiedensten Nuancen von der Priorität des abstrakten Indivi-
duums ausgeht, dieses als staatliches Atom betrachtet und den
Staat daher als eine große, künstliche, von den Individuen frei
zusammengesetzte Gesellschaft ansieht. \enn daher in diesen
Lehren auch gelegentlich, wie bei Hobbes, organische Bilder
vorkommen, so ist ihnen doch in Wahrheit der Staat ein kom-
plizierter Mechanismus menschlicher Erfindung. Mit dem Rück-
schlag gegen das Naturrecht trıtt die organische Theorie von
neuem’ ın neuer Form hervor. Entgegen der Lehre vom ursprüng-
lichen Naturzustande wird der aristotelische Satz von der Priorität
des Staates wiederum derart belebt, daß der Staat als uranfäng-
liche und daher vom reflektierenden Bewußtsein der Individuen
unabhängige Institution erklärt wird. Auch Wachstum, Blühen
und Vergehen der Staaten werden -als Wirkungen selbständiger,
von menschlicher Willkür unabhängiger Kräfte betrachtet. \Vesent-
lich gefördert wird diese Anschauung sodann von der historischen
Rechtsschule, deren Gründer den Prozeß der Rechtsbildung auf
den instinktiv wirkenden Volksgeist zurückführten.
Die neuere organische Theorie tritt in verschiedenen Formen
auf. Eınmal kehrt, wie bereits erwähnt, die alte Lehre wieder,
der zufolge der Staat eın natürlicher, namentlich dem Menschen
analoger Organismus sei, und, gibt zu den willkürlichsten und
phantastischsten Behauptungen Anlaß. Sodann wird aber von
1) Vgl. Gierke Genossenschaftsr. III S. 549 ff.
2) Röm. 12, 4—6; Korinth. 1, 12, 12—31.
3) Über den Einfluß der Vorstellung vom corpus mysticum Christi
auf die mittelalterliche Staats- und Gesellschaftslehre vgl. Gierke
Genossenschaftsrecht III S.517f£., 546 ff.