Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 153
bieten, als Einheiten mannigfaltigster Art auffassen, hat seinen
guten Grund. Ohne die Fähigkeit, subjektive Svnthesen zu
bilden, gäbe es für uns keine Welt des Fühlens, des Erkennens,
des Handelns. Allein diesen Synthesen objektive Wahrheit beizu-
legen, bedeutet einen Sprung vom Empirischen ins Metaphysische.
Wenn wir auf Grund der organischen Hypothese den Staat als
eine innere Einheit auffassen, so ist es unter allen Umständen
eine metaphysische Behauptung, wenn wir die objektive, von
unserer Erkenntnis unabhängige Existenz dieser Einheit be-
haupten. Denn mag man es anstellen, wie man will, die organische
Lehre muß in dem Organismus stets ein Wesen, d. h. eine
Substanz, einen Träger der von ihm ausgehenden Funktionen
sehen. Die Annahıe einer realen Substanz aber, die als Staat
oder Gesellschaft zu bezeichnen ist, gehört ın das Reich meta-
physischen Glaubens, ob diese Substanz nun grobsinnlich oder
als ideale Existenz gedacht wird!). Der sittliche oder geistige
Organismus, die organische Persönlichkeit werden, sobald man
sie nicht nur als Hilfsmittel zur Synthese der Erscheinungen ver-
wendet, zu mystischen Wesenheiten, wie es z.B. auch der Volks-
geist und die Volksseele sind, die als wahre Spukgestalten
erscheinen, wenn man vergißt, daß ihr Wert nur darin liegen
kann, daß sie Abkürzungen höchst verwickelter und in ihren
Details gar nicht zu entziffernder psychologischer Massenprozesse
sind. Die organısche Theorie ist daher, erkenntnis-theoretisch
betrachtet, keine Lehre vom bloßen objektiven Dasein des Staates,
sondern vom Staate, wie er sich auf Grund unserer subjektiven,
t) Mein Gegensatz zur organischen Lehre ist der der Erkenntnis-
kritik zur Dogmatik. Die, wenn auch unausgesprochen, gegen mich ge-
richteten neuesten Ausführungen von Gierke, Das Wesen der mensch-
lichen Verbände 1902, beweisen nicht etwa die Möglichkeit der objektiven
Existenz eines sozialen Organısmus, sondern lehren wiederum nur ein
Glaubensbekenntnis und gehen daher der ganzen erkenntnistheoretischen
Frage aus dem Wege. Auch Preuß, Über Organpersönlichkeit a.a. O.
S.575, erklärt das Leben als ein großes X, meint aber, man müsse die
Tatsache des begrifflichen \Wesensunterschiedes zwischen lebendigem
Organismus und totem Mechanismus als gegeben hinnehmen, und zeigt
sich damit ebenfalls als unkritischer Metaphvsiker, der durch ein Dogma
die Forschung da enden läßt, wo das wahre wissenschaftliche Problem
erst beginnt. Vgl. auch die vorzüglichen Ausführungen von Max Weber,
Schmollers Jahrbuch XXVII S.35, der sehr treffend darauf hinweist, daß
Gierke Gefühlsinhalte hypostasiert.