Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 155
die es zu verbieten scheinen, sie aus dem bewußten, überlegenden
Willen der Individuen herzuleiten, sondern sie vielmehr als über-
ragende Mächte erscheinen lassen, an denen menschliche Willkür
nur geringfügige Änderungen, sollen diese Bestand haben, vor-
zunehmen vermag.
Allein diese Momente bieten nichts als Analogien ‚dar, denen
tiefgreifende Unterschiede gegenüberstehen. Neben die unreflek-
tierte Bildung sozialer Institutionen tritt, täglıch wahrnehmbar,
die bewußte. Der Bau ganzer Staaten kann plötzlich die ge-
waltigste Umbildung erfahren. Staaten wachsen und vergehen
nicht nach organischem Vorbilde, sie unterliegen nicht notwendig
den Gesetzen der Entwicklung und Rückbildung!). Ferner fehlt
ihnen, was, nur dem Organischen eigentümlich, zum Kernpunkt
alles Lebens zählt, die Erneuerung im Wechsel der Generationen:
sie können sich nicht fortpflanzen. Die Entstehung neuer Staaten
als Fortpflanzungsprozesse irgendwelcher Art darzustellen, ist
nur einem mit den vagsten Analogien arbeitenden Kopfe möglich.
Das Deutsche Reich und Italien, die Staaten der Balkanhalbinsel
und Kuba, um nur der jüngsten Zeit zu gedenken, haben dem
Schwerte, einem sicherlich nicht organischen Zeugungsmittel, ihr
Dasein zu verdanken. Höchstens in der Kolonisation — die aber
mit Besiedlung der ganzen Erde in absehbarer Zeit ein Ende
finden muß — könnte eine üppige Phantasie eine Art organischen
Zeugungsprozesses erblicken. Anhänger der organischen Lehre
pflegen die von ihnen verworfenen staatlichen Institutionen und
Neuerungen als unorganisch zu bezeichnen, welcher Terminus
allein schon die Negierung der ganzen organischen Lehre enthält.
Denn im Leben eines Organismus kann es nichts Unorganisches
geben. Krankeit, Verkrüpplung, Mangel an Leistungsfähigkeit usw.
sind sämtlich organische Prozesse. Daß nur der typisch voll-
1!) Man denke doch nur an die Staatsgeschichte des deutschen Volkes,
um einzusehen, daß Wachstum, Blüte und Verfall des Staates mit
organischen Naturerscheinungen nichts gemein haben. Wann hat der
deutsche Staat geblüht? Unter den hohenstaufischen oder unter den
hohenzollernschen Kaisern? Und bedeutete das Interregnum, der Dreißig-
jährige Krieg oder der Frieden von Luneville den Niedergang? Ist der
deutsche Staatsorganismus 1806 gestorben ? Bejaht man die letzte Frage,
dann müßte die organische Theorie zu einer allerdings jeder biologischen
Analogie spottenden Auferstehungslehre gelangen! Vgl. auch die treffen-
den Bemerkungen von W.Haecker Die ererbten Anlagen usw. 1%%
S. 66 ff.