156 Zweites Buch. Allgemeine Soziallehre des Staates.
endete Organismus Existenzberechtigung habe, daß es überhaupt
ein Sollen für den Organısmus gebe, ist eine willkürliche, un-
wissenschaftliche Behauptung.
Die organische Lehre pflegt aber eng mit ‚der Aufstellung
eines Normalorganisnıus verknüpft zu sein, wodurch sie zu einer
politischen Theorie wird. Sıe zeichnet: einen Idealtvpus des
Staates zum Zweck der Beurteilung gegebener staatlicher Zu-
stände!). In der Zeichnung dieses Typus wird häufig mit der
größten Willkür verfahren. Da eine klare Definition des Or-
yanischen nicht gegeben werden kann, so stellt sich in den Einzel-
ausführungen dieses Wort überall dort ein, wo Begriffe fehlen.
Daher auch die bedenkliche Erscheinung in der organologischen
Literatur: statt schrittweisen wissenschaftlichen Fortgang anzu-
bahnen, schneidet die organısche Lehre oft hochmütig die Dis-
kussion durch einen Machtspruch ab; statt zu erklären, läßt sie
sich an einem Bilde genügen. Daher hat keine Lehre so wilde
Exzesse der subjektivsten Phantasie aufzuweisen wie diese. Zu-
dem fehli den Organologen jede klare Einsicht 'in das Wesen
methodischer Forschung, die sie mit der Anwendung von Analogien
und Bildern identifizieren. In neuester Zeit pflegen sie Anleihen
bei der naturwissenschaftlichen Methode zu machen, indem sie
den tiefen Unterschied zwischen natürlichem und sozialem Ge-
schehen übersehen und von der bereits früher gerügten Ver-
wechslung von „naturwissenschaftlich“ mit ‚empirisch‘ oder
„exakt‘‘ beherrscht sind?).
1) Das geschieht auch von naturwissenschaftlicher Seite. So kommt
über die vagsten Analogien des Staates mit dem Normalorganismus nicht
hinaus Hertwig, Die Lehre vom Organismus und ihre Beziehung zur
Sozialwissenschaft 1899 S. 18ff.
*) Wie die organische Lehre selbst, so lebt auch ihre Forschungs-
weise von einem falschen Monismus. Denn die mit dem Experiment, mit
sinnlicher Beobachtung, Maß, Gewicht und Instrument arbeitende Natur-
forschung ist durch Objekt und Erkenntnismittel ein für allemal von den
Sozialwissenschaften getrennt, und alles, was man der angeblichen natur-
wissenschaftlichen Methode in den Sozialwissenschaften verdankt, sind
haltlose Hypothesen, die der eine Tag schafft und der andere zerstört.
Nicht ein einziger feststehender Satz — ich wage diese Behauptung
apodiktisch aufzustellen — ist der Sozialwissenschaft durch die „exakte‘
Forschungsweise gewonnen worden. Daß Beobachtung und Feststellung
des Gegebenen der Ausgangspunkt aller sozialwissenschaftlichen Dis-
ziplinen ist, hat nicht erst die neueste naturwissenschaftliche Erkenntnis
zum Bewußtsein gebracht, sondern dieses Axiom entstammt der Auf.