Full text: Allgemeine Staatslehre

Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 159 
Menschen im Staate eine „unio“, d.h. eine Zusammenfassung 
der vielen zu einer Einheit bildend!t). 
Der Gedanke der Kollektiveinheit liegt, mehr oder minder 
klar ausgedrückt, den Anschauungen der meisten neueren Staats- 
rechtslehrer über das soziale Wesen des Staates zugrunde?). Ein- 
gehend ausgebildet ist aber diese Theorie von Gierke. Wenn 
er selbst auch nicht genügend die Verbandstheorie von der or- 
ganischen scheidet, vielmehr sich selbst als Organologen gibt, 
wenn ferner der Gegensatz der beiden Erkenntnisarten des 
Staates bei ihm nicht ganz klar vorhanden ist, so bergen doch 
seine bedeutsamen Ausführungen über die Genossenschaft eine 
ausgebildete Theorie von dem vorjuristischen Dasein des Staates 
in sich. In ihr erscheint der Staat als ein durch eine feste Or- 
ganisation und dauernde Zwecke geeinigter Verband, als eine 
von den einzelnen unterschiedene Einheit, die trotzdem nur 
durch die Vielheit und in der Vielheit der Individuen besteht). 
In klarer Form hat sodann Bernatzık Gemeinwesen und juri- 
  
1) Bei Althusius, Politica V 1, tritt der Begriff der consociatio 
publica, bei Grotius jener des coetus (civitas = coetus liberorum 
hominum juris fruendi ei communis uiilitatis causa consociatus) hervor. 
Letzteren haben manche Spätere (so z.B. Böhmer 1.c.S. 184) akzep- 
tiert. Seit Hobbes beginnt die Betonung der im Staate vollzogenen 
Union der einzelnen, die später namentlich bei Rousseau scharf 
hervortritt. Durch den contrat social wird eine in der Union der Mit- 
glieder bestehende association geschaffen (I, 6). Derselbe Gedanke kehrt 
wieder in der berühmten Kantschen Staatsdefinition (Staat = Ver- 
einigung einer Menge Menschen unter Rechtsgesetzen, a.a.0. 8 45). 
Ebenso meinen die zahlreichen Publizisten, die von einer Staatsgesell- 
schaft sprechen, die Zusammenfassung der Vielheit zur Einheit ın Form 
der Vereinigung. Das ergibt sich daraus, daß gerade das Naturrecht die 
juristische Persönlichkeit des Staates energisch betont und daher bei 
klarer Scheidung des Rechtsbegriffes des Staates von seinem sozialen 
Substrat auch dieses hätte notwendig als Einheit denken müssen. 
2) Als Gemeinwesen bezeichnen den Staat z.B. Albrecht ı.d. 
Gött. gelehrten Anzeigen 1837 III S.1491; H.A.Zachariae Deutsch. 
Staats- u. Bundesrecht I S.41; H.Schulze Einleitung S.121; G.Mever 
Staatsrecht S.3ff.;, Brie Theorie der Staatenverbindungen 1886 5.3. 
3) Vgl. namentlich seine tiefdringenden Ausführungen: Die Genossen- 
schaftstheorie und die deutsche Rechtssprechung, ferner Deutsches Privat- 
recht I 1895 S.456ff. Gemäß seiner organologischen Grundanschauung 
faßt Gierke das soziale Substrat des Staates als reale Gesamtpersönlich- 
keit oder Verbandsperson auf. Da er aber (vgl. Privatrecht S. 471) die 
juristische Persönlichkeit der Verbandsperson, wie beim Individuum, erst 
durch Rechtssatz entstehen läßt, daher das Recht solchen Verbänden
	        
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