Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 161
Von allen Anhängern dieser Gemeinwesentheorie wird, wie
nicht anders möglich, der Staat als ein Wesen aufgefaßt. Wir
müssen nämlich jede reale Einheit denknotwendig substanziieren.
Solche Substanziierung vermittelt auch richtige Erkenntnis, wo-
fern wir uns nur hüten, ein sinnliches Objekt an Stelle des
Substrates zu setzen, das wir als Grundlage der Beziehungen der
einzelnen Glieder einer sozialen Einheit postulieren. Indem wir
für die Verbandseinheit einen einheitlichen Träger, ein Indivi-
duum fordern, nehmen wir keine Fiktion, ja nicht einmal eine
Abstraktion aus tatsächlich Gegebenem vor, sondern wir wenden
eine zur Synthese der Erscheinungen denknotwendige Kategorie
an, die erkenntnistheoretische Berechtigung hat, solange wir dem
durch sie Erkannten keine transzendente Realität zuschreiben?}).
Diese als Wesen zu denkenden Einheiten gehören ebenso unserer
subjektiven Welt an wie Farben und Töne. Unserer Welt des
Handels aber, in welcher der Staat seine Stelle hat, können wir
nur die subjektiven Tatbestände unseres Bewußtseins zugrunde
legen, nicht die uns nur innerhalb enger Schranken erkennbare
objektive Realität der Dinge. Wissenschaftliche Besonnenheit hat
die Aufgabe, die Relativität dieser Betrachtungsweise zum Be-
wußtsein zu bringen ?), nicht aber sie abzuweisen; es würde da-
mit einfach Unmögliches gefordert werden.
Die Theorie von der Kollektiv- oder Verbandseinheit erklärt
die Einheit des Staates in der Vielheit seiner Glieder, die
Stellung seiner Organe zum Ganzen und zu den Teilen, die
Kontinuität des staatlichen Daseins im Wechsel der Generationen.
Sowohl naturwüchsiges Entstehen und Umbildung des Staates als
dessen willkürliche Fortbildung und Umwälzung können von ihr
aus widerspruchslos begriffen werden. Sie ist keine politische,
sondern eine rein wissenschaftliche Theorie, die, entsprechend
formuliert, die Fehler der übrigen Theorien vermeidet. Sie gibt
aber nur den Oberbegriff, unter den der Staat zu subsumieren
ist. Denn Verbandseinheiten sind nicht nur die Staaten, sondern
1) Über den Dingbegriff als Form der Synthese vgl. Sigwart
a.a.0. II 872; über die Anwendung des Dingbegriffes auf Kollektiva
gute Ausführungen bei Kistiakowski a.a.0. 5. 126 ff.
2) Treffend bemerkt Kistiakowski 5.144: „Die gesellschaftliche
Substanz besteht in den einzelnen und ihrem gemeinsamen Seelenleben.
Irgendwelche andere gesellschaftliche Substanz und Seele anzunehmen,
haben wir keinen Grund.“
G. Jellinek, Allg. Staatslehre. 3. Aufl. 11