Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 165
Staatsherrschaft hat doch niemals die Vorstellung von dem Cha-
rakter des Staates als eines Gemeinwesens gänzlich ersticken
können, da es überall eine Herrschende und Beherrschte ver-
bindende Rechtsordnung gab und solche mit der Idee des Ob-
jektstaates unvereinbar ist. Den Staat als, Objekt stellt die
Herrschertheorie in der Seydelschen Fassung auf!), die ja
zugleich das reale und das juristische Wesen des Staates er-
klären will. Sie läßt aus der tatsächlichen Herrschaft das Recht
entstehen, ohne zu erklären, wieso eine objektive Tatsache un-
mittelbar aus sich heraus eine geistige Macht, als welche das
Recht ist, zu erzeugen vermag. Hierher gehört auch die übrigens
unentwickelte Lehre vom Staate als Anstalt?), da bei der An-
1) Grundzüge einer allg. Staatslehre S. 4, Bayer. Staatsrecht I S. 170.
2) Rotteck, a.a.0. 11 S.56, erklärt, der Staat sei zugleich Anstalt
und Gesellschaft. Ebenso faßt Stahl, II? S.140, den Staat auf als
Anstalt und Gemeinwesen; ferner H.A.Zacharıae, I S.43, als mora-
lısche Person, Zustand, Rechtsverhältnis zwischen dem Ganzen und seinen
Gliedern und überdies noch als eine sittliche Anstalt. Was Anstalt seı,
wird aber von keinem dieser Schriftsteller gesagt, wie denn überhaupt
vor Gierkes aufklärenden, aber dennoch nicht abschließenden Unter-
suchungen der Anstaltsbegriff zu den verworrensten der ganzen, Juris-
prudenz gehörte. Auch heute aber noch verschweigen uns namhafte
Juristen, was sie unter Anstalten verstehen. So handelt z.B. Dern-
burg, Pandekten I, 7. Aufl. 1902 $ 62 (8. Aufl, her. von Sokolowski,
1910 8 50), von den Anstalten, ohne den geringsten Versuch zu machen,
sie zu definieren, während er sie neuestens (Das bürgerliche Recht des
Deutschen Reichs und Preußens 1, 3. Aufl. 1906 S.181) rein negativ als
juristische Personen bezeichnet, die nicht Korporationen sind. Crome,
System des bürg. Rechts I 1900 S. 233, negiert sogar den selbständigen
Begriff der Anstalt überhaupt, teilt vielmehr die juristischen Personen
ausschließlich in Korporationen und Stiftungen ein. Ähnlich von Tuhr
Der Allgemeine Teil des deutschen bürgerlichen Rechts I 1910 S. 454 N. 12.
selbst bei Regelsberger, I S.291ff., der sich im wesentlichen in
seinen ausführlichen Erörterungen an Gierke anschließt, vermißt man eine
völlig klare Definition der Anstalt. Über die verschiedenen Theorien der
Anstalt ım heutigen deutschen Zivilrecht vgl. Endemann Lehrbuch des
bürg. Rechts I 9. Aufl. 1903 S.176 N.4, über den partikularrechtlichen
Begriff der Anstalt Dorner-Seng Badisches Landesprivatrecht 1906
S.30; Hatschek im Verwaltungsarchiv 19. Bd. 1911 S. 309ff. Vgl. ferner
Fr. Fleiner Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts 2. Aufl. 1912
S.99. — Gierke, Deutsches Privatrecht I S.474ff., spricht von den
Wurzeln des deutschen Territorialstaates im Anstaltsbegriffe, früher (Ge-
nossenschaftsrecht II S.861) nennt er den obrigkeitlichen Landesstaat
sogar schlechthin Anstaltsperson, ohne indes diesen Gedanken "eingehend