Full text: Allgemeine Staatslehre

Sechstes Kapitel. Das Wesen des Staates. 175 
Innerlichkeit reale Existenz gewinnen kann, kein Dasein besitzt. 
Denn das nicht gelesene oder sonst einem Bewußtsein vermittelte 
Wort hat keine selbständige Existenz. Die Sprache ist durch 
Laut- und Schriftzeichen vermittelte psychische Funktion. Auch 
ihre Substanz sind und bleiben die Menschen. Ein von Menschen 
losgelöstes und zur Selbständigkeit verdichtetes Dasein der 
Sprache gibt es nicht. 
Sodann mit der Religion. Auch sie ist reine Funktion, 
keine Substanz. Auch sie bezeichnet einen bestimmten Bewußt- 
seinsinhalt menschlicher Individuen und die darauf sıch gründenden 
menschlichen Relationen. Der Buddhismus, das Judentum, das 
Christentum sind menschlicheVorstellungen, Beziehungen, Aktionen. 
Die Geschichte einer Religion ist identisch mit der Geschichte 
religiöser Vorstellungen und deren Wirkungen. Die Religion 
steht nicht neben, sondern sıe steckt in den Menschen. 
Nicht anders verhält es sich mit Kunst und Wissenschaft, 
mit Recht und Wirtschaft. Die Substantive dürfen uns nicht 
verleiten, in ihnen objektive reale Mächte zu sehen, wenn sie 
auch dem einzelnen als solche entgegenzutreten scheinen. Sie 
sınd insgesamt Erscheinungen menschlicher Innerlichkeit, die 
zwar Veränderungen in der Welt der Objekte wirken, primär 
jedoch in einer Reihe psychischer Akte bestehen. Auch sie sind 
Funktion, nicht Substanz. 
Diese Einsicht ist von größter Bedeutung für die Erkenntnis 
des Wesens aller Sozialwissenschaften. Es sind Wissenschaften 
von menschlichen Relationen und deren äußeren Wirkungen. 
Der gesamte Bewußtseinsinhalt der Menschen wird von ihnen 
aufgeteilt und der Arbeit besonderer Disziplinen unterzogen. Sie 
sind sämtlich Wissenschaften bestimmter, durch ihr Objekt zu- 
sammengehaltener psychischer Funktionen. 
Mit diesem allein richtigen Ausgangspunkt, der Auffassung 
des Staates als einer Funktion der menschlichen Gemeinschaft, 
ist die Falschheit einer ganzen Reihe staatswissenschaftlicher 
Grundlehren dargetan. Vor allem derjenigen, welche den Staat 
als ein neben oder über den Menschen stehendes natürliches 
Gebilde auffaßt. Die Beobachtung nämlich, daß die konkreten 
staatlichen Zustände zum nicht geringen Teil nicht von der 
Gegenwart erzeugt, sondern von der Vergangenheit überliefert, 
daß also die politischen Institutionen nicht durchaus willkürliche 
Schöpfungen sind, hat unklares Denken häufig verleitet, den
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.